SinnFlut – ehemals Köln
SinnFlut war eine Initiative, die 1989 aus der Begeisterung und den Erfahrungen von Studierenden entstand, die an einem Theaterprojekt mit der Magical Experiendes Arts Company (MEAC) teilgenommen hatten, die an der Universität zu Köln gastierte. Inspiriert von diesen Erlebnissen formierte sich eine Gruppe von etwa 25 Studierenden unter der Leitung von Wolfgang Lamers vom Lehrstuhl für Pädagogik bei geistiger Behinderung mit dem Ziel, Theater- und Spielmöglichkeiten für Menschen mit komplexer Behinderung zu entwickeln und umzusetzen.
Nach 1,5 Jahren intensiver Projektarbeit wurde im Dezember 1991 das erste Stück aufgeführt. Ein wesentlicher Unterschied zum MEAC-Projekt bestand darin, dass die SinnFlut-Akteure keine professionelle künstlerische Ausbildung hatten. Stattdessen brachten sie ihre individuellen Fähigkeiten und ihr Fachwissen aus verschiedenen Bereichen ihres Studiums wie Entwicklungs- und Wahrnehmungspsychologie, Kunst, Musik sowie behinderungsspezifisches Wissen ein.
SinnFlut grenzte sich bewusst von rein fördernden oder therapeutischen Ansätzen ab. Stattdessen wurde in den Aufführungen ein „erziehungsfreier“ Raum geschaffen, in dem jede*r Teilnehmer*in unabhängig von seinen Voraussetzungen zum Akteur werden konnte.
Die Aufführungen fanden nicht auf einer erhöhten Bühne statt, sondern in einem großen weißen Zelt. Es gab keine Zuschauer*innen, sondern nur aktiv Teilnehmende. Dies schuf einen Freiraum für Begegnungen und Kontakte zwischen allen Beteiligten und ermöglichte es Menschen mit komplexer Behinderung, Teil einer gemeinsamen kulturellen Erfahrung zu sein.
Die Methodik der Aufführungen von SinnFlut basierte auf „Geschichten ohne Sprache“, in denen Elemente verschiedener Theaterformen kombiniert wurden. Mimik, Gestik, Bewegung, Pantomime, Musik, Tanz, Berührung, Licht, Kostüme und Bühnenbild wurden eingesetzt, um ein multisensorisches Erlebnis zu schaffen. Die Geschichten konnten gesehen, gehört, auf der Haut gespürt und manchmal sogar gerochen werden.
Ein besonderer Aspekt von SinnFlut war der Versuch, kulturell relevante und altersadäquate Angebote für Menschen mit komplexer Behinderung zu schaffen. Das Projekt stellte sich der Herausforderung, auch anspruchsvolle Inhalte für diese Zielgruppe zugänglich zu machen. Ein Beispiel dafür war die Adaption von Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“, bei der durch die Elementarisierung des Inhalts charakteristische und bedeutsame Aspekte herausgearbeitet wurden. Der Fokus lag dabei auf dem Erleben und Empfinden Werthers, wobei die Jahreszeiten als Grundstruktur und Spiegel seiner emotionalen Befindlichkeit dienten.
SinnFlut hatte eine besondere Bedeutung für Menschen mit komplexer Behinderung, da es ihnen ermöglichte, aktiv an kulturellen Erlebnissen teilzunehmen. Das Projekt schuf einen Raum, in dem diese oft von der Kultur ausgeschlossene Gruppe nicht nur als Zuschauer, sondern als aktive Teilnehmer*innen einbezogen wurden. Durch den multisensorischen Ansatz wurden verschiedene Wahrnehmungskanäle angesprochen, was besonders für Menschen mit eingeschränkten kommunikativen Fähigkeiten wichtig war.
Das Theaterprojekt SinnFlut gibt es leider nicht mehr. Es war aber nicht nur ein innovatives Projekt, das die kulturelle Teilhabe von Menschen mit komplexer Behinderung förderte, sondern auch Vorbild und Impuls für andere Theaterprojekte für Menschen mit komplexer Behinderung, die in der Folge als ‚Basales Theater‘ entstanden. Während sich die Idee des ‚Basalen Theaters‘ oder des ‚Multisensorischen Theaters‘ im deutschsprachigen Raum kaum durchgesetzt hat, spielt sie im englischsprachigen Raum bis heute eine herausragende Rolle. In England gibt es mehrere professionelle Theatergruppen (siehe auch hier im Virtuellen Kulturhaus), die diese Form des Theaters erfolgreich praktizieren.
Außerordentlich bedeutsam ist auch der Einfluss, den SinnFlut bis heute auf die Gestaltung von Bildungsangeboten in schulischen und außerschulischen Kontexten für Menschen mit komplexer Behinderung hat. Der Leitgedanke, dass auch Menschen mit komplexer Behinderung ein Zugang zu anspruchsvollen Bildungsinhalten ermöglicht werden kann und muss, hat den von Heinen und Lamers skizzierten Ansatz ‚Bildung mit ForMat‘ maßgeblich beeinflusst und spielt auch heute noch eine bedeutende Rolle.
Fotos
Filme
Theaterprojekt SinnFlut – Ausschnitt aus der Sendung Selbstbestimmt. Mit freundlicher Genehmigung des MDR – ©MDR
Weiterführende Materialien
Veröffentlichungen
Bertrand, Anette / Stratmann, Elke (2002): Basales Theater im Unterricht. Schüler mit schweren Behinderungen stehen im Rampenlicht. Spiel- und Erlebnismöglichkeiten – nicht nur für Schüler mit schweren Behinderungen. Verlag modernes lernen: Dortmund.
Grütjen, A.; Wache, A. (1999): SinnFlut – Erlebnistheater für Menschen mit schwerster Behinderung. In: I. Bielenberg (Hg.): Eigen-Sinn & Eigen-Art. Kulturarbeit von und mit Menschen mit Behinderung. Unter Mitarbeit von U. Baer. Remscheid: BKJ (Schriftenreihe der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung, Bd. 48), S. 131-134.
Lamers, W. (1996): Spiel mit schwerstbehinderten Kindern und Jugendlichen. Kap. SinnFluT. Aachen: Mainz Verlag.
Lelgemann, G. (2007): Begegnungen sind lebendig. Basales Theater – Ein experimentierfreudiges, ganzheitliches und erlebnisorientiertes Gruppenangebot mit Schülerinnen und Schülern mit schweren Mehrfachbehinderungen. In: Lernen konkret. Heft 1, Jg. 26, S. 30-32.
Manecke, André (1997): Basales Theater. Ein Beitrag schwerstbehinderter Menschen. In: Reuter, Werner / Theis, Gebhard (Hrsg.): Spielräume, Spaßräume, Lernräume. Theaterpädagogische Anregungen – nicht nur für SonderpädagogInnen. Verlag modernes lernen: Dortmund. Seite 315-333
Online-Präsenz
Website(s)
Das Theaterprojekt SinnFlut existiert nicht mehr.
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