Bildende Künste

Susanne Bauernschmitt | Pädagogische Hochschule Heidelberg

Bildende Kunst trägt schon im Namen das Potential für Bildung. Und gleichzeitig ist mit bildend ein Entwickeln, ein Gestalten, ein Schaffen, ein Hervorbringen, ein Bild-Geben gemeint.

Die Kunst bietet durch ihre jeweils aufeinander bezogenen Wechselwirkungen von Form und Inhalt vielfältige Rezeptionsmomente, die Menschen mit komplexer Behinderung unterschiedliche Zugänge eröffnet. Neben dem offensichtlich Visuellen verhandelt gerade zeitgenössische Kunst vielsinnige, ereignishafte Wahrnehmungszugänge und Erfahrungsmöglichkeiten: tastend und begreifend, hörend, vibrierend und fühlend, manchmal gar schmeckend und riechend. Performative Kunst lässt zeitweilig Betrachter:innen zu Teilnehmenden werden, künstlerische Handlungsanweisungen fordern explizit zur Partizipation, zum Mit-Wirkenden auf. Zunehmend werden von zeitgenössischen Künstler:innen auch Technologien wie Augmented und Virtual Reality, verwendet, die durch Simulationen Umgebungen erweitern oder ersetzen und in digitaler Form dargeboten werden. Museen nutzen (zugegeben noch sehr vereinzelt) diese Reality-Technologien auch als Medium der Kunstvermittlung, so dass künstlerische Erlebnis- und Erfahrungsräume zu Menschen gebracht werden können, denen der Weg ins Museum nicht möglich ist. Deutlich sichtbarer werden (neben der obligatorischen Treppenrampe im Eingangsbereich) Bemühungen im Bereich der Vermittlungsangebote, wie Führungen und Workshops, die auf spezifische Bedürfnisse und Fähigkeiten von Personengruppen zugeschnitten werden und methodisch basale Aneignungswege eröffnen. Diese Vermittlungsangebote gilt es zu nutzen, um Menschen mit komplexer Behinderung kulturelle Teilhabe zu ermöglichen und die Angebote durch entsprechende Nachfrage weiter auszuweiten.

Körper, Raum, Beziehung, Natur, Rollen, Zeit, Wahrnehmung, Macht/ Ermächtigung, Selbst & Umwelt (um nur einige zentrale Themenkomplexe zu nennen) sind stetig neu verhandelte Themenfelder der Kunst mit großer Relevanz für alle, auch für Menschen mit komplexer Behinderung.

Das Bild zeigt den Satz „Kunst ist anders.“ in gelber Schrift, darunter steht in kleinerer blauer Schrift „Büsra C. & Oliver Weber – Die Wortfinder“. Der Hintergrund ist weiß.

Kunstrezeption darf nicht länger als zielgerichtete Vermittlung einer beabsichtigten künstlerischen Intention, einer versierten Auslegung von Kunsthistoriker:innen gedacht werden. Vielmehr geht es um die Demokratisierung von Auslegungen, um individuelle Reaktionen, Resonanzen und Handlungen und den wertschätzenden Austausch über diese Vielfalt.

Das Bild zeigt den Satz „Kunst ist ein duftendes Ungewiss“ in gelber Schrift, gefolgt vom Text „Barbara Eikenberg – Die Wortfinder“ in kleinerer, dunkelgrüner Schrift.

„Kunst ist ein duftendes Ungewiss“ formuliert Barbara Eikenberg in einer der Schreibwerkstätten der „Wortfinder“ (vgl. https://www.diewortfinder.com/postkarten-und-bücher/postkarten/).

Diesem „Duft“ ins Ungewisse auch praktisch zu folgen, eröffnet Menschen mit komplexer Behinderung vielfältige Handlungs-, Kommunikations-, und Gestaltungsräume. Gestaltungen sind dabei nicht nur als farbige Formulierungen auf Papier zu verstehen.

Vielmehr geht es um die Nutzung der (bereits oben angedeuteten) Bandbreite an künstlerischen Strategien und bildnerischen Handlungs- und Ausdrucksformen:

AKTIONEN auf der FLÄCHE: abdrucken, collagieren, einritzen, kritzeln,  kopieren, Linien ziehen, malen, prägen, schreiben, schütten, variieren, zeichnen

AKTIONEN im RAUM: abmessen, fotografieren, in Beziehung setzen, inszenieren, interagieren, maskieren, projizieren, Spuren hinterlassen, stapeln, tanzen, verbinden, verkleiden, verwandeln, vorführen, zelebrieren

AKTIONEN mit DINGEN: archivieren, (a-typisch) nutzen, ordnen, sammeln, schmücken, verfremden, zerlegen, (neu) zusammensetzen

FORMEN: abformen, ankleben, bauen, konstruieren, verformen, verhüllen, zerstören …

und in allen

DIMENSIONEN: aufnehmen, dokumentieren, konstruieren, künstlerisch forschen, überarbeiten, untersuchen, wahrnehmen, weiterentwickeln, vertonen, Zufall nutzen

Das oben formulierte „Ungewiss“ der Kunst benennt die Unwägbarkeiten bildnerischen Gestaltungsprozesse. Lässt man sich auf ein Material, auf eine Handlungsstrategie, auf eine Technik, auf künstlerische Prozesse wahrlich ein, so kann ein Endprodukt, ein Ergebnis nicht vorherbestimmt werden. Erst auf dem Weg, ereignen sich Zufälle, Einfälle, Bezüge, Handlungsmuster, die sich entwickeln, formen und bilden.

Der gelbe Text lautet: „Wenn man Kunst macht, muss man Risiken eingehen. Kunst ist Lust.“ und der Text in Dunkelblau lautet: „Mick Pisu – Die Wortfinder“.

In Praxisversuchen zeigt sich, dass künstlerische Prozesse ungeahnte Entwicklungen bei Menschen mit Behinderung hervorbringen können, wenn Freude am experimentellen Handeln geweckt wird, wenn Wahlmöglichkeiten eröffnet und Raum für eigene Zugänge und Ideen gegeben wird.

Erst dann kann wirkliche SELBSTwirksamkeit möglich werden, die meist alle staunen lässt!

Erst dann können eigene Perspektiven und Formulierungen sichtbar werden!

Erst dann kann sich das „SELBST“ zeigen.

 

Demnach möge der Satz von Mick Pisu, „Wenn man Kunst macht, muss man Risiken eingehen. Kunst ist Lust.“ hier um die Perspektive der Unterstützer:innen (z.B. Assistenz, Pädagog:innen etc.) ergänzt werden: Wenn man bildnerische Prozesse initiiert und begleitet, muss man wagemutig riskante Wege mitgehen. Das bringt Lust, Neugier und Faszination!