Literatur
Dr. Angelika Thäle | Humboldt-Universität zu Berlin
Literarische Texte, wie Gedichte, Erzählungen und Romane, können in ganz besonderer Weise einen eigenen Zauber entfalten: Sie können den Leser_innen ein Eintauchen in neue Welten eröffnen, der Unterhaltung dienen oder Halt und Orientierung im Leben geben.
Damit Literatur als kulturelle Praxis auch im Leben von Menschen mit komplexer Behinderung eine Rolle spielen kann, bedarf es häufig unterstützender Maßnahmen. Diese können darin bestehen, dass literarische Texte sprachlich vereinfacht werden und weitere Medien wie Bilder, Filme, passende Gegenstände, Klänge und Gerüche beim Lesen mit einbezogen werden. Konzepte wie die basalen Aktionsgeschichten oder die mehr-Sinn® Geschichten zeichnen sich durch diesen Einbezug verschiedener Medien beim Lesen und Erzählen literarischer Texte aus.
Zu berücksichtigen ist bei dieser multimedialen Gestaltung, dass die Rezeption von Literatur nicht zu einem willkürlichen Bereiztwerden von Menschen mit komplexer Behinderung führt. Es ist darauf zu achten, dass Raum für eine individuelle Auseinandersetzung und Interaktion bleibt und die so dargebotenen Texte auch Anlass für einen weiteren kommunikativen Austausch sind. Außerdem sollte zumindest in Ansätzen die geformte, oft klangvolle Sprache des Ausgangstextes bei einer Bearbeitung erhalten bleiben. Zu vermeiden ist, dass die eingesetzten Kürzungs- und Veränderungsstrategien zu stark die jeweiligen Besonderheiten einzelner Werke einebnen und diese dann allein als Ausgangspunkt für verschiedene Sinneseindrücke dienen.
Um das Verstehen literarischer Texte auf einer grundlegenden Ebene jenseits eines oft als zu komplex wahrgenommenen Handlungsgeschehens zu unterstützen, ist das emotional-sinnliche Erleben von Sprache in den Mittelpunkt zu rücken.
Dies geschieht v. a. in der mündlichen Präsentation von Literatur. Dadurch kann der je eigene Klang, Reim und Rhythmus poetischer Sprache zur Geltung kommen. Auch die Verbindung von Sprache mit Bewegungen, z. B. im Rahmen kleiner szenischer Umsetzungen von Texten, kann zum Verstehen beitragen.
Im Zusammenhang mit dem Vortragen von Texten, dem Experimentieren mit Sprache und dem szenischen Spiel steht auch der Einbezug von Musik. Noch mehr als sprachliche Inhalte kann Musik die Aufmerksamkeit für metrisch-rhythmische Strukturen wecken und das emotional-soziale Beteiligtsein unterstützen. Deutlich wird, dass der Umgang mit poetischer Sprache und Literatur im Kontext komplexer Behinderung eng mit anderen ästhetischen Bereichen wie Darstellendes Spiel, Musik und Bildende Kunst verbunden ist.
Neben den verschiedenen Formen der multimedialen Rezeption gehört zur Auseinandersetzung mit Literatur auch, Räume für einen eigenen sprachlich-kreativen Ausdruck zu eröffnen. So können z. B. in Schreib- und Textwerkstätten, denen ein erweitertes Verständnis des Schreibens zugrunde liegt, Kritzelnachrichten entstehen, kleine Texte zu ausgewählten Themen diktiert werden oder persönlich bedeutsame Erlebnisse zur Grundlage für die Gestaltung von individuellen Büchern werden. Das Konzept der Bag Books beispielsweise fokussiert auf verschiedene Aneignungsmöglichkeiten von Menschen mit komplexer Behinderung und eröffnet so individuelle literar-ästhetische Zugänge zu verschiedenen Themen.
Damit Literatur ihren Zauber voll entfalten kann, sei abschließend betont, dass bei der Auswahl der Texte die persönlichen Interessen der Menschen mit komplexer Behinderung zu berücksichtigen sind. So wird die Möglichkeit gegeben, dass Literatur individuell bedeutsam werden kann.