Musikbasierte Kommunikation

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Die Grundlagen des Konzeptes „Musikbasierte Kommunikation für Menschen mit komplexer Behinderung“

Musikalisch ist, wer sich von Musik berühren lässt
Hansjörg Meyer-Sonntag

Was ist Musikbasierte Kommunikation?

Pädagogisches Konzept

Das Konzept der Musikbasierten Kommunikation versteht sich als ein pädagogisches Konzept und nicht als eine Form der Therapie. Es ist auch nicht als Methode oder Technik gedacht, um bestimmte Lern- und Förderziele zu erreichen. Es kann in der Arbeit mit diesen eingesetzt werden, aber die primäre Absicht ist es, ein Kommunikationsmedium zur Verfügung zu stellen, einen Rahmen zu schaffen, in dem mit musikalischen Elementen auf einer körperbezogenen Ebene kommuniziert werden kann. Worüber dann gesprochen wird, bestimmen die Kommunikationspartner. Musikbasierte Kommunikation ist eigentlich nur eine Form der Sprache, die von Menschen mit komplexer Behinderung gesprochen und verstanden werden kann. Die Sprache selbst wird erst durch den Sprechenden mit Inhalt gefüllt. Daher ist das oberste Prinzip des Konzepts die Absichtslosigkeit – und es eignet sich daher für eine breite Zielgruppe. Das Konzept ist nicht meine „Erfindung“ – Musik ist naturgemäß ein nonverbales Kommunikationsmittel, und die Idee, es in der Behindertenarbeit einzusetzen, verdanken wir Musikern wie Paul Nordoff, Getrud Orff oder Juliette Alwin.

Universelle Musikalität

Fast jeder Mensch ist musikalisch, denn fast jeder Mensch lässt sich von Musik berühren. Das gilt für so genannte Normalbegabte, für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen , für Kinder und sogar für Kleinkinder – unabhängig von ihrem IQ. Der Grund dafür liegt in der engen Verwandtschaft von Musik und der frühen Kommunikation zwischen Erwachsenen und Babys, in der es beim Wiegen, Schaukeln, Beruhigen, Spielen, im „Baby-Talk“ oder der „Motherese“ um das Finden gemeinsamer Tempi und Rhythmen, um eine Bedeutungsabstimmung von Blicken, Mimik und Lauten geht. Das hat schon in dieser frühen Phase durchaus musikalischen Charakter [1]. Unsere ersten Erfahrungen sind also musikalischer Natur. Sie prägen uns ein Leben lang als Freude an der Musik, als Ausdruck einer Sehnsucht, hin und wieder als deren Erfüllung, als Untermalung manch schöner Erinnerung, als das, was wir unter Musikalität verstehen.

Pioniere der Musiktherapie

 

Wer mit Menschen mit komplexer Behinderung zu tun hat, weiß, wie sehr sie auf Musik ansprechen. Eine kognitive Beeinträchtigung ist kein Hindernis für das Erleben von Musik, genauso wenig wie sie ein Hindernis für das Erleben von Gefühlen ist. Nur die Fähigkeit, sie auszudrücken, kann beeinträchtigt sein, niemals die Fähigkeit, sie zu erleben. Mitte des letzten Jahrhunderts entdeckten Pioniere der Musiktherapie wie Paul Nordoff und Clive Robbins, dass behinderte Kinder Musik zur Kommunikation und zur Entfaltung ihres schöpferischen Potenzials nutzen können und entwickelten die „Creative Music Therapy“ [2], bei der ein am Klavier improvisierender Therapeut auf die Bewegungen, Laute und das Spiel auf einfachen Instrumenten eines Kindes eingeht, darauf antwortet und einen musikalischen Dialog führt. Dadurch wird das schöpferische Potential des Kindes geweckt, dessen Entfaltung sich auch im alltäglichen Kommunikationsverhalten niederschlägt. Musikalische Interaktion kann also Entwicklung anregen.

Praxis der Musikbasierten Kommunikation

Musikalische Antwort

 

In meiner eigenen Arbeit mit Menschen mit komplexer Behinderung gehe ich im Sinne dieses Konzeptes auf die körperlichen Äußerungen meines Gegenübers ein [3]. Menschen ohne Lautsprache drücken ihre Gefühle über ihren Körper aus, über Bewegungen, Laute oder über die Atmung. An Mimik und Gestik, am Charakter der Stimmlaute oder an der Intensität der Atmung kann man durchaus erkennen, wie es einem Menschen geht. Gleichzeitig enthalten alle diese körperlichen Äußerungen auch musikalische Elemente: nämlich Töne, Klang, Lautstärke, Tempo, Rhythmus und Takt. Auf diese kann ich musikalisch eingehen, sie aufgreifen und beantworten. In der Regel tue ich das mit dem Klavier, weil es als Melodie-, Harmonie- und Schlaginstrument über ein sehr breites Ausdrucksspektrum verfügt, vor allem aber, weil man mit ihm die Gefühle, die der behinderte Mensch vielleicht hat, ausdrücken und damit hörbar und kommunizierbar machen kann. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen:

Die vierzigjährige Brigitte sitzt neben dem Klavier und wiegt ihren Oberkörper nach rechts und links. Ihre Augen sind geschlossen. Dabei summt sie leise einzelne Töne vor sich hin. Ich begleite sie synchron mit einer einfachen, improvisierten Melodie, unterlegt mit leisen Dur-Akkorden, die sich in Tonhöhe und Klang an Brigittes Tönen und in Rhythmus, Takt und Tempo an ihren Bewegungen orientieren. Ändert sich das Tempo ihrer Bewegungen, passt sich die Musik stets an. Sie scheint diese Begleitung zu genießen, denn sie lächelt.

Motorisch-
musikalisches
Gespräch

 

So entsteht ein motorisch-musikalisches bzw. stimmlich-musikalisches Gespräch, das sich an Brigittes Äußerungen und ihrer Stimmung orientiert. In diesen Gesprächen bilden sich aber auch ihre Kontakt- und Beziehungsmuster ab. Brigitte ist im Alltag sehr zurückgezogen, reagiert auf zu starke äußere Reize mit autoaggressivem Verhalten und wird in alten Arztberichten als „Autistin“ bezeichnet. Nach einigen Monaten gemeinsamer Musikbasierter Kommunikation, in der sie in den wöchentlichen Sitzungen in der oben beschriebenen Weise begleitet wird, nehmen die Gespräche einen anderen Charakter an:

Brigitte genießt es nach wie vor, bei ihren relativ monotonen Bewegungen synchron begleitet zu werden. Doch plötzlich hält sie inne und schaut mich fragend an – auch ich unterbreche mein Klavierspiel. Dann nimmt sie ihre Bewegungen, begleitet von der Musik, wieder auf. Kurze Zeit später hält sie wieder inne, als wolle sie herausfinden, ob sich die Musik wirklich an ihr orientiert. Als kein Ton mehr zu hören ist, kichert Brigitte. In den folgenden Wochen wiederholt sich dieses Spiel unzählige Male. Sie beginnt auch mit dem Tempo zu experimentieren, wird mal schneller, mal langsamer, bricht eine Bewegungssequenz abrupt ab und scheint große Freude daran zu haben, wenn ich nicht gleich synchron antworte.

Entwicklungsfreundliche Beziehung

 

Zur Erklärung dieser Entwicklung sind Konzepte wie die psychoanalytische Entwicklungspsychologie [4] und die darauf basierende „entwicklungsfreundliche Beziehung nach Senckel/Luxen“ [5] besonders geeignet. In ihrer psychischen Entwicklung schien sich Brigitte zu Beginn der Behandlung am Anfang der sogenannten „symbiotischen Phase“ (nach Mahler) zu befinden, in der psychische Verschmelzungs- und Synchronisierungserfahrungen eine große Rolle spielen. Im Verlauf dieser Phase ergreift das Kind zunehmend die Initiative in Kommunikation und Spiel, was auf eine sich anbahnende Ablösung und zunehmende Autonomie, auf „Differenzierung“ und möglicherweise auf die sogenannte „Übungsphase“ im Sinne Mahlers hindeutet – Brigitte hat Freude daran, eigene Impulse auszuprobieren, braucht aber noch stark die „symbiotische“ Begleitung. Manchmal kommt es auch zu einer Regression, die aber letztlich ihrer Entwicklung dienlich zu sein scheint:

Es kommt jedoch immer wieder vor, dass Brigitte während einer Sitzung wie gewohnt innehält, das Ausbleiben der Begleitung aber plötzlich mit heftigen Schlägen beider Fäuste gegen den Kopf quittiert. In einem solchen Fall setzt die Musik sofort wieder in der vorherigen Weise ein und „nimmt sie mit zurück“ in das symbiotische Erleben. Nach dem ersten dieser Vorfälle konnte sie die sichere Begleitung über mehrere Sitzungen nicht verlassen. Im Laufe der inzwischen mehrjährigen gemeinsamen Sitzungen treten solche Sequenzen zwar immer wieder auf, aber heute braucht sie manchmal nur wenige Minuten, um ihre Autonomie wieder erproben zu können. Auch kann sie kurz nach solchen Vorfällen wieder lachen.

Korrigierendes Beziehungsangebot

 

Brigitte zeigt heute im Alltag weniger autoaggressives Verhalten. Die Musikbasierte Kommunikation konnte hier als diagnostisches Instrument dienen und aufzeigen, dass dieses Verhalten auf einer Verunsicherung beruhte. Pädagogisch konnte sie im Laufe der Jahre durch ein konstantes und immer wiederkehrendes korrigierendes Beziehungsangebot in ihrer Autonomieentwicklung unterstützt werden. Dies erinnert in Ansätzen an die Vorgehensweise der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie nach Heigl-Evers und deren Modifikation für Menschen mit Behinderung von Christian Gaedt, Anne Sand u.a. [6].

Musikalischer Zugang und musikalische Begleitung

Kommunikation mit musikalischen Mitteln

 

Musik kann aber auch außerhalb spezieller Sitzungen und im Alltag zur Kommunikation mit Menschen mit komplexer Behinderung eingesetzt werden. Das pädagogische Konzept „Musikbasierte Kommunikation für Menschen mit komplexer Behinderung“ nach Meyer [7] möchte den musikalischen Zugang zu den körperlichen Äußerungen von Bewegung, Laut und Atem von Menschen mit komplexer Behinderung für andere Personengruppen und Professionen öffnen, auch für solche, die sich selbst als „unmusikalisch“ bezeichnen. Dieses Konzept baut auf den oben genannten Grundlagen auf und beschreibt insofern nichts wirklich Neues, vor allem wenn man bedenkt, dass Kommunikation mit musikalischen Mitteln seit Menschengedenken praktiziert wird. Im Mittelpunkt steht der Gedanke, dass jede Äußerung eines behinderten Menschen eine musikalische Antwort und damit eine Bedeutung erhalten kann. Während dem Menschen mit komplexer Behinderung meist nur der eigene Körper als Musikinstrument zur Verfügung steht, können wir neben unserem Körper auch reale Instrumente einsetzen.

Einfache Instrumente

 

Neben den Instrumenten, die erlernt werden müssen, gibt es eine Vielzahl von einfachen Musikinstrumenten, die jeder spielen kann: kurzklingende Instrumente wie Handtrommeln (Djemben, Congas, Bongos), Xylophone, Klanghölzer für das Zusammenspiel mit schnelleren Bewegungen und langklingende Instrumente wie Klangschalen, Röhrenglocken, Metallophone, Leiern und Kantelen sowie das Monochord für das Zusammenspiel mit langsameren Bewegungen wie dem Atem.

Ein kleines Kind im Rollstuhl spielt mit auf einer Trommel. Das Kind ist darauf konzentriert, die Trommel zu schlagen, während der Mann es scheinbar anleitet oder anregt.

Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der ursprünglich dargestellten Person wurde das Foto mit Hilfe von KI verändert.

Dieses Eingehen ist sehr frei, wie in einem verbalen Gespräch. Das kräftige Hin- und Herschaukeln eines Menschen, der aufgrund seiner körperlichen Behinderung selbst kein Instrument spielen kann, kann z.B. auf einer Handtrommel begleitet werden und so die Kraft und Freude am eigenen Tun hörbar machen. Es ist wie eine Antwort – „was du jetzt tust und dabei erlebst, klingt so“. Verbal würde man jetzt vielleicht sagen: „Das macht doch Spaß, oder?!“ Während der Inhalt dieser Worte bedeutungslos sein dürfte (nicht jedoch die zugrunde liegende Sprachmelodie), wird die musikalische Antwort verstanden und regt in den meisten Fällen zur Verstärkung der Aktivität und damit zur Kommunikation an. Die Einschränkung spielt, wie im Beispiel von Brigitte, keine Rolle. Denn jeder Mensch ist musikalisch.

Quellen

[1] vgl. Nitzschke 1984, Stern 1992, Papousek 1994, Schumacher 1999 [2] Nordoff & Robbins 1986 [3] vgl. Meyer 2009, 2010 [4] Mahler 1980 [5] vgl. Senckel 1998, Senckel & Luxen 2017 [6] vgl. Gaedt 1987 [7] vgl. Meyer 2009, 2012



Literatur

Gaedt, Ch (Hg.) (1987): Psychotherapie bei geistig Behinderten. Neuerkerode.

Mahler, M. (1980): Die psychische Geburt des Menschen. Frankfurt: Fischer.

Meyer, Hj, (2009): Gefühle sind nicht behindert. Freiburg: Lambertus.

Meyer, Hj. (2010): Komponisten mit schwerer Behinderung. Freiburg: Lambertus.

Meyer, Hj. (2012): Musikbasierte Kommunikation. Karlsruhe: ‎ Loeper.

Meyer, Hj.; Sansour, T.; Zentel, P. (Hg.) (2015): Musik und schwere Behinderung. Karlsruhe: ‎ Loeper.

Nitzschke, B. (1984): Frühe Formen des Dialogs. Musikalisches Erleben – Psychoanalytische Reflexion. In: Musiktherapeutische Umschau 5, S. 167-187.

Nordoff, P.; Robbins, C. (1986): Schöpferische Musiktherapie. Individuelle Behandlung für das behinderte Kind. Stuttgart: Urban & Fischer

Papousek, M. (1994): Vom ersten Schrei zum ersten Wort. Bern: Verlag Hans Huber.

Schumacher, K. (1999): Musiktherapie und Säuglingsforschung. Frankfurt: Peter Lang.

Senckel, B. (1998): Du bist ein weiter Baum. München: C.H.Beck.

Senckel, B.; Luxen, U. (2017): Der entwicklungsfreundliche Blick. Weinheim: Beltz.

Stern, D. (1992): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: ‎ Klett-Cotta.