Schmerzen und Schmerzerkennung bei Menschen mit komplexer Behinderung
Schmerzen bei Menschen mit komplexer Behinderung
häufige Schmerzen
über die Lebensspanne
Schmerzen sind neben Atemnot das gefürchtetste Symptom am Lebensende. Menschen mit komplexer Behinderung sind eine Personengruppe, die oft lebenslang mit unterschiedlichsten Schmerzen, insbesondere chronischen Schmerzen, konfrontiert sind. So führen u.a. ein erhöhter Muskeltonus aufgrund einer Cerebralparese, muskel-skelettale Veränderungen und Komplikationen, die daraus erwachsen, verschiedenste chronische und akute Erkrankungen innerer Organe sowie syndromal verursachte Fehlbildungen und Problematiken zu Schmerzen. Menschen mit komplexer Behinderung sind darüber hinaus lebenslang vielfältigen schmerzhaften medizinisch-pflegerischen Prozeduren ausgesetzt (Absaugen, Katheterisieren, Blut abnehmen, orthopädische Diagnostik usw.) und müssen oft schon im Kindesalter operiert werden [1]. All das kann dazu führen, dass Menschen mit komplexer Behinderung viele Schmerzerfahrungen, vielleicht in traumatisierender Weise, gemacht haben. Im sog. Schmerzgedächtnis sind diese gespeichert und können auf das Erleben aktueller Schmerzen verstärkend wirken.
Schwierigkeiten,
Schmerzen zu äußern
Ein weiteres Problem ist, dass Menschen mit komplexer Behinderung häufig nicht über die Möglichkeit verfügen, verbal über ihre Schmerzen Auskunft zu geben. Sie sind also davon abhängig, dass Bezugspersonen ihre Schmerzäußerungen erkennen bzw. ihnen Kommunikationshilfen an die Hand geben, damit sie ihre Schmerzen mitteilen können.
Dabei können Menschen mit komplexer Behinderung ihre Schmerzen sehr unterschiedlich äußern. Neben „typischen“ Schmerzäußerungen, wie weinen, schreien oder eine verzerrte Mimik, können auch Verhaltensweisen gezeigt werden, die herkömmlicherweise nicht als Schmerzmitteilungen angesehen werden.
„Verhaltensstörung“
als Schmerzausdruck
Aus Untersuchungen ist bekannt, dass Menschen mit komplexer Behinderung Schmerzen häufig als selbst- oder fremdverletzendes oder als sog. stereotypes Verhalten zeigen [2]; [3]. Oft werden diese als psychiatrische Phänomene, als „Verhaltensstörung“, fehlinterpretiert und dann häufig mit Psychopharmaka behandelt. Nach somatischen Ursachen wird oft gar nicht gefragt [4]. Von Menschen mit komplexer Behinderung und Autismusspektrumstörung ist bekannt, dass sie oft ganz untypische Schmerzzeichen senden [5]. Auch körperliche Unruhe ist als starker Indikator für Schmerzen bekannt. Bei Menschen mit sehr schwerer körperlicher Beeinträchtigung sind möglicherweise nur somatische Zeichen sichtbar, wie eine veränderte Atmung, Schweißbildung oder die Hautfarbe und -beschaffenheit.
Menschen mit komplexer Behinderung erleben deshalb im Lebenslauf immer wieder, dass ihre Schmerzmitteilungen nicht gehört werden und ihnen bei Schmerzen nicht geholfen wird.
Schmerzen am Lebensende
Am Lebensende kommen zu den unterschiedlichen lebensbegleitenden Schmerzen weitere hinzu, die durch wachsende Tumore, schwere Herz- oder Lungenerkrankungen oder andere lebensbedrohliche Erkrankungen hervorgerufen werden.
Menschen brauchen deshalb lebenslang und ganz besonders in palliativen Situationen Unterstützung, um Schmerzen und Unwohlseinszustände zum Ausdruck zu bringen. Wenn dies stark erschwert ist, brauchen Sie Begleiter*innen, die ihre Schmerzäußerungen gut kennen bzw. mit Beobachtungshilfen systematisch erfassen.
Unterstützung der Kommunikation des Schmerzes
Grundsätzlich sollten alle Äußerungen, die ein Mensch zum Ausdruck von Schmerzen findet, beantwortet und bestärkt werden. Dies können einzelne Worte, wie „Aua“ oder „tut weh“, Lautierungen, Gestik, beispielsweise zum Zeigen des Schmerzortes, oder Mimik sein.
Schmerz Skalen
Einige Menschen mit komplexer Behinderung können mittels Schmerzskalen über die Stärke ihrer Schmerzen Auskunft geben. Dies kann über numerische Skalen, mittels Farben oder mittels des Ausdrucks von Gesichtern erfolgen. Die bekannteste Gruppe der Skalen bilden die »Smiley-Analogskalen« (SAS) in verschiedenen Ausführungen und Sprachen. Die eingesetzten Bilder mit verschiedenen Gesichtsausdrücken stammen aus der Pädiatrie. In Analogie sind weitere Smiley-Analogskalen spezifisch für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen entstanden [6]; [7].
Smiley Skala [8]
Unterstützte
Kommunikation
Für Menschen, die Unterstützte Kommunikation nutzen, gibt es in den verschiedenen Symbolsammlungen Bilder und Symbole, um über Schmerzen und andere Unwohlseinszustände Auskunft geben zu können. Diese können für die individuellen Möglichkeiten und Bedarfe zusammengestellt und dann sowohl mittels Mappen oder mittels elektronischer Kommunikationshilfen eingesetzt werden.
UK Tafel für die Mitteilung von Schmerzen und Unwohlsein im Symbolsystem Pictoselector [9]
Im Palliativkoffer „Ich bin da – Hospizkoffer der CAB Augsburg“ wurden UK-Materialien zur Kommunikation von Schmerzen und bei Unwohlsein sowie entsprechende Hilfsmöglichkeiten zusammengestellt. Weiterhin wurde eine Blicktafel mit verschieden zu belegenden Feldern angefertigt [10].
Ich-Bücher
Ich-Bücher können dazu beitragen, Vorlieben, Wünsche und wichtige Bedürfnisse von Menschen mit komplexer Behinderung festzuhalten. In Bezug auf Schmerzen und Unwohlseinszustände sollten darin bekannte chronische Erkrankungen, das typische Schmerzverhalten der Person sowie erfolgreiche Hilfsmöglichkeiten aufgeschrieben werden. Ich-Buch-Vorlagen sind im Internet (z. B. die-uk-kiste.de) oder in verschiedenen Publikationen enthalten [11].
Systematische Beobachtung von Schmerzzeichen
Beobachtungsbögen
Um Schmerzen systematischer und sicherer zu beobachten sind für Menschen ohne Verbalsprache und ohne die Möglichkeit Unterstütze Kommunikation zu nutzen, standardisierte Beobachtungsbögen entwickelt worden. Verhaltensitems, die bei Schmerzen auftreten werden hier in systematischer Form beobachtet und zum Teil mit Zahlenwerten eingeschätzt. Unabhängig von einer palliativen Situation ist deren Einsatz immer dann zu empfehlen, wenn nicht sicher festgestellt werden kann, ob eine Person Schmerzen hat [12]. Ganz besonders wichtig wird die Einschätzung der Schmerzsituation einer nicht (mehr) sprechenden Person natürlich am Lebensende.
für Menschen mit Demenz
Für Menschen mit Demenz, für die erstmals solche Bögen entwickelt wurden, wird zur systematischen Schmerzerfassung in Deutschland am häufigsten die sog. BESD- Skala (Beurteilung von Schmerzen bei Demenz) von Basler, Hüger & Schuler 2006 eingesetzt [13].
Eine weitere Skala, die in diesem Bereich Anwendung findet ist die ECPA (Echelle comportementale de la douleur pour personnes agees non communicates) [14] bzw. die deutsche Version die BISAD (BISAD – Beobachtungsinstrument für das Schmerzassessment bei alten Menschen mit Demenz) [15].
Ein weiterer Schmerzbeobachtungsbogen ist der PAIC 15 (Pain Assessment in Impaired Cognition) [16].
für Menschen mit
komplexer Behinderung
In den letzten Jahrzehnten wurden auch für Menschen mit geistiger und komplexer Behinderung Beobachtungsbögen zur systematischen Schmerzerfassung entwickelt. Dazu gehören die EDAAP-Skala (Evaluation de l’Expression de la Douleur chez l’Adolescent ou l’Adulte Polyhandicapé) [17] und die CPS-NAID (Chronic Pain Scale for Nonverbal Adults with Intellectual Disabilities) [18]. CPS-NAID ist in einer deutschen Fassung veröffentlicht in Wördehoff [19].
Für den Bereich Kinder und Jugendliche mit schwerer geistiger Behinderung wurde das sog. Kinderschmerzprofil, die PPP (PPP-Skala Paediatric Pain Profile) [20], entwickelt.
Eine weitere Skala, die ZOPA (Das Zurich Observation Pain Assessment), wurde für Menschen in postoperativen Situationen bzw. in Zuständen des Wachkomas entwickelt. Diese Schmerzskala kann für Menschen in der letzten Lebensphase, die kaum noch Äußerungs- bzw. Verhaltensmöglichkeiten haben, sehr hilfreich sein, da sie insbesondere somatische Zeichen, wie Atmung, Puls, Hautfarbe und Schweißbildung beobachtet [21].
Informationen zu den Schmerz-Skalen
BESD – Skala zur Beurteilung von Schmerzen bei Demenzpatienten
Die BESD-Skala ist ein Instrument zur Beurteilung von Schmerzen bei Demenzpatienten. Sie berücksichtigt nonverbale Hinweise wie Mimik, Körperhaltung und Verhaltensänderungen.
Quellen
[1] Nüßlein, F. & Schlichting, H. 2015, S. 164f [2] Tayler et al. 1993, Christiensen et al. 2009 in Bienstein, P & Warnke, A. 2013, S. 65 [3]Schlichting, H. Gelhaus, M. & Nüßlein, F. 2023, S. 43f [4] Martin, P. 2015, S. 39f [5] ebd. [6] Müller, T. o.J [7] Hartmann, B. 2013 [8] in Anlehnung Müller, T. o.J [9] Labisch & Schlichting, H. 2018 [10] Fichtmair, M. 2017, S. 55f. [11] z. B. Kitzinger, A. & Hallhuber, A. 2019 [12] Schlichting, H; Gelhaus, M. & Nüßlein, F. 2023, S. 107 [13] Basler, H.-D.; Hüger, D. & Schuler, M. 2006 [14] Morello, R.; Jean, A. & Alix, M. 1998 [15] Fischer, T. 2012 [16] Achterberg, Lauterbacher et.al. 2021 [17] Belot, M.; Marrimepoey, P. & Rondi, F. 2009 [18] Breau, L. & Burkitt, C. 2009 [19] Wördehoff, D. 2018, S. 880 [20] Hunt, 2003 [21] Kosztrewa, St. 2013, S. 135
Literatur
Literatur
Achterberg, W.; Lautenbacher, St.; Husebo, B.; Erdal, A.; Herr, K. (2021): Schmerz bei Demenz. In: Der Schmerz, 2021. 35. S. 130–138.
Basler, H.-D.; Hüger, D. & Schuler, M. (2006): Beurteilung von Schmerz bei Demenz (BESD): Untersuchung zur Validität eines Verfahrens zur Beobachtung des Schmerzverhaltens. Schmerz 2006; 20: S. 519–26.
Bienstein, P.& Warnke, A. (2013): Ätiologie. In: Bienstein, P. & Rohjahn, J. (Hg.): Selbstverletzendes Verhalten bei Menschen mit geistiger Behinderung. Grundlagen, Diagnostik und Intervention. Göttingen: Hogrefe, S. 56–92.
Breau, L. & Burkitt, C. (2009): Assessing pain in children with intellectual disabilities. In: Pain Research Management 14 (2), S. 116-120.
Fichtmair, M. (2017): Unterstützte Kommunikation und Schmerz. In: Behinderte Menschen – Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten 40 (2), S. 55–58.
Fischer, T. (2012): Zur Entwicklung und Testung der BISAD Schmerzeinschätzung bei Menschen mit schwerer Demenz. Das Beobachtungsinstrument für das Schmerzassessment bei alten Menschen mit schwerer Demenz (BISAD). Bern: Verlag Hans Huber.
Hartmann, B. (2013): Skala zur Schmerz (PRMR)- und Symptomdarstellung (SRMR) für Menschen mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung. [Zugriff am 24.03.2024]
Hunt, A.; Goldman & A.; Seers, K. et al. (2004): Clinical validation of the paediatric pain profile. In: Developmental Medicine Child Neurology 46 (1), S. 9–18.
Kitzinger; A. & Hallbauer, A. (2019): komet Kommunikationsbuch. St. Gallen: Autismusverlag.
Kostrzewa, St. (2013): Menschen mit geistiger Behinderung palliativ pflegen und begleiten. Hogrefe Verlag.
Labisch, M.K. & Schlichting, H. (2018) Kommunikationstafel. In: Labisch, M.K.: Möglichkeiten Unterstützter Kommunikation zur Mitteilung von Schmerzen. Unveröffentlichte Staatsexamensarbeit an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig.
Labisch, M.K. & Schlichting, H. (2018): Möglichkeiten Unterstützter Kommunikation zur Mitteilung von Schmerzen. Unveröffentlichte Staatsexamensarbeit an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig
Martin, P. (2015): Schmerzen erkennen und diagnostizieren. In: Bienstein, P.; Klauß, Th. (Hg.): Herausforderung Schmerzen. Ausgewählte Aspekte. Dokumentation der Arbeitstagung der DGSGB 2014 in Kassel. Berlin: Eigenverlag der DGSGB, S. 38–49.
Morello, R.; Jean, A. & Alix, M. (1998): LÉCPA: une échelle comportementale de la douleur pour personnes âgées non communicantes. In: InfoKara 51, S. 22–29.
Müller, T. (o.J.) Schmerzskala mit Körperansichten. [Zugriff am 24.03.2024]
Nüßlein, F. & Schlichting, H. (2015): Schmerzen bei Menschen mit Komplexer Behinderung – Notwendigkeit einer Konzeptualisierung in der Aus- und Weiterbildung. In: Teilhabe 54 (4), S. 163–172. [Zugriff am 24.03.2024]
Schlichting, H.; Gelhaus, M. & Nüßlein, F. (2023): Herausforderung Schmerzen bei Menschen mit geistiger und Komplexer Behinderung. Marburg: Lebenshilfe.
Wördehoff, D. (2018). Verhaltensstörung oder Schmerz? Schmerzerfassung und -therapie bei Menschen mit geistiger Behinderung. In: Der Onkologe 24 (11), S. 877-884.