Chorprobe

KONKRETISIERUNG   ·  Chor- bzw. Bandprobe

 

SACHASPEKTE UND POTENZIAL

Ein musikalisches Angebot an Arbeits- und Bildungsorten für Menschen mit schwerer Behinderung, das das gemeinsame Singen in den Mittelpunkt stellt, geht von einem weiten Verständnis des Singens und Klänge-Erzeugens aus: Die Freude an Musik, am gemeinsamen Arbeiten mit der Stimme, am Zuhören oder an der Begleitung mit Instrumenten ist dabei nicht an die Lautsprache oder eine ausgebildete Singstimme gebunden. Unter anderem durch das Spielen von (Rhythmus-)Instrumenten, Body Percussion oder mit Hilfsmitteln zur Unterstützten Kommunikation können auch Menschen mit schwerer Behinderung beteiligt werden, die nonverbal kommunizieren oder deren Singstimme kaum entwickelt ist.

Eine regelmäßige Chor- bzw. Bandprobe kann vielfältig zur Aktivierung, zum individuellen Wohlbefinden und auch zur Entspannung beitragen, z. B. durch die Konzentration auf Atmung und Stimme, das Erleben von Gemeinschaft und ein emotionales Angesprochenwerden durch die Musik.

Musikangebote mit Menschen mit schwerer Behinderung können nur gelingen, wenn auch die anleitenden Mitarbeiter_innen gern und laut singen. Damit kann ein Lernen am Modell ermöglicht werden. Auch das Anhören von Chormusik und unterschiedlichen Musikbands kann zum gemeinsamen Singen und Erzeugen von Klängen mit der Stimme und dem Körper anregen.

Für das Angebot sollten Musikstücke ausgewählt werden, die für die Beteiligten eine angenehme Stimmlage haben (bzw. in diese transponiert sind). Der Einsatz von Begleitinstrumenten (z. B. Gitarre, Rhythmusinstrumente) durch die Mitarbeiter_innen oder weitere Beschäftigte ist sinnvoll, um beim Singen das Halten der Stimmlage zu unterstützen und einen größeren Klangeffekt zu erzielen. Es kann auch auf Karaoke-Versionen von Musikstücken zurückgegriffen werden. Dabei ist es hilfreich, wenn das Tempo der Karaoke-Stücke technisch variiert werden kann.

Das Singen in einem Chor bzw. einer Musikband eröffnet vielfältige Möglichkeiten für aktive Prozesse sowie die rezeptive und reflexive Auseinandersetzung mit Musik. Das Musikangebot kann dabei verschiedene Schwerpunkte haben:

  • die Entwicklung eines gemeinsamen Chorklangs,
  • Übungen zur Entwicklung von Stimme und Rhythmusgefühl: Aufwärmübungen für den Körper (sich gegenseitig abklopfen), das Singen einzelner Tonfolgen (z. B. mit Namen der Beschäftigten „Lu-iiii-sa“ „Ta-maaa-ra“), Wechselgesänge (z. B. Tutti- und Solo-Einsätze) usw.,
  • den Einsatz von Body Percussion (z. B. im Rhythmus klatschen oder stampfen),
  • Musik und Bewegung (z. B. im Takt laufen oder frei tanzen zur Musik),
  • das Einstudieren einzelner Stücke oder
  • den Aufbau eines Repertoires (vgl. Merkt 2012).
IMPULSFRAGEN

Welche Rolle spielt Musik bereits in der Einrichtung?

Welche Möglichkeiten haben die Beschäftigten bisher, um selbst Musik zu machen?

Haben die Beschäftigten Interesse an einem Chor bzw. wodurch könnte das Interesse am Singen oder Zuhören geweckt werden?

Gibt es ein bestimmtes Thema, das bei der Auswahl der Lieder bzw. Musikstücke berücksichtigt werden soll?

Gibt es einen besonderen Anlass, bei dem der Chor auftreten kann?

DIFFERENZIERUNG
  • Geräusche, Klänge und Lieder in Verbindung mit Körperkontakt erleben, auf Stimmresonanz im Körper hinweisen (z. B. Kopf- und Brustresonanz)
  • die bewusste Wahrnehmung der Klänge im Körper unterstützen (z. B. mit abgedeckten Ohren lautieren und singen)
  • Fokus auf die Atmung legen (Wo kommt die Stimme her?)
  • Positionen bzw. Lagerung verändern und Stimmveränderung wahrnehmen (z. B. im Liegen, Sitzen, Stehen lautieren und singen)
  • Vibrationen verstärken (z. B. Basstöne, Sound über Musikboxen abspielen, Mikrofon nutzen)
  • im Rhythmus der Musik bewegt werden (z. B. im Rollstuhl, in der Hängematte)

Blickkontakt/-fokussierung:

  • Blickkontakt zur Chorleitung und zu den Mitsinger_innen durch visuelle Hilfen (z. B. gut sichtbarer Taktstock) unterstützen
  • Instrumente ins Blickfeld rücken und zum gezielten Greifen anregen
  • das eigene Spiel mit Instrumenten bewusst machen (z. B. zeigen und verbal kommentieren)
  • Lage der Instrumente zum begleitenden Spielen variieren (z. B. Trommel zum Schlagen günstig positionieren)

Hörbeeinträchtigung:

  • Vibrationen (bes. von tiefen Tönen, Bässen) spüren lassen
  • Body Percussion nutzen
  • Gebärdensongs bzw. durch Gebärden begleitete Lieder nutzen
  • Basstöne/-rhythmen technisch verstärken

Auditive Aufmerksamkeit:

  • bequeme Position zum Zuhören einnehmen
  • ruhigen, ablenkungsarmen Raum nutzen
  • Rituale nutzen, die auf das Zuhören vorbereiten (z. B. Klangschale, spezielle Beleuchtung, ritualisierte Sprache)
  • Wechsel von Stille und Klang bewusst machen (z. B. durch deutliche Pausen bei der Wiederholung der Hörangebote)
  • verschiedene Hör- und Klangerfahrungen anbieten (z. B. Intervalle, Tonfolgen, Akkorde)
  • Richtungshören und Hörverstehen üben (z. B. Geräusche den jeweiligen Klangerzeugern zuordnen, aus unterschiedlichen Ecken des Raumes singen)
  • Schwerpunkt auf ungewöhnliche oder wiedererkennbare Ausschnitte aus Liedern legen (z. B. prägnanter Einsatz, Thema, Refrain)
  • beim Zuhören auf körpereigene Signale der Aufmerksamkeit genau achten (z. B. Kopfhaltung, körperliche An- oder Entspannung)
  • ‚klingende‘ Räume aufsuchen, technische Verstärkung nutzen

Hypersensibilität:

  • Beschränkung auf minimale auditive Angebote, um Überreizung zu verhindern (z. B. Musik von John Cage, Philip Glass, Percussion Performance)
  • wenige, lang klingende Töne und langsame Tonabfolgen anbieten
  • Hörangebote zeitlich begrenzen
  • auf Zeichen des Unwohlseins und der körperlichen Anspannung genau achten
HANDLUNGSLEITENDE PRINZIPIEN
  • freiwillige Teilnahme am Musikangebot
  • musikalische Vorerfahrungen, Vorlieben und Musikwünsche der Beschäftigten erfragen, wahrnehmen bzw. vermuten und mit aufgreifen
  • gemeinsam den Schwerpunkt des Musikangebots festlegen (z. B. neue Songs kennenlernen, Stimmarbeit, Begleitinstrumente spielen)
  • Lautstärke beim Anhören der Musik selbst bestimmen
  • Ideen der Beschäftigten zur Instrumentalbegleitung aufgreifen
  • vielfältiges Repertoire an Musikstücken anbieten
  • auf Kinderlieder verzichten
  • nach Wahl des Angebots: Verbindlichkeit hinsichtlich der regelmäßigen Teilnahme an der Chor- bzw. Bandprobe einfordern
  • Orientierung über den Ablauf des Angebots mit Bild-, Symbolkarten oder Gegenstand geben (z. B. Glocke, Klangschale)
  • um eine höhere Aufmerksamkeit zu erzielen evtl. nicht immer in der gesamten Gruppe singen und Musikmachen, sondern im Dialog oder in kleineren Gruppen üben (‚Stimmprobe‘)
  • anstehende Aufgaben im Team der Mitarbeiter_innen besprechen und verteilen (z. B. Anleitung des Chorangebots, Unterstützung beim Spielen der Begleitinstrumente, emotionale Unterstützung für einzelne Beschäftigte)
  • An- und Entspannung beim Zuhören und Musizieren berücksichtigen –> Pausen einplanen
  • Überlastung durch Geräusche und vielfältige (auditive) Eindrücke erkennen und für Ruhepausen sorgen
  • auf individuell geeignete Sitz- und Stehpositionen zum Singen und Musik-Machen achten
  • die Chorprobe gemeinsam vorbereiten (Stühle und Instrumente aufstellen)
  • das eigene und gemeinsame Singen bzw. Lautieren und Musizieren bewusst machen (z. B. durch das Aufnehmen von einzelnen Sequenzen der Chorprobe, das Nutzen technischer Verstärkung)
  • ein kleines Repertoire einüben und vor einem Publikum präsentieren
  • beim Musikhören das Auswählen der Musik und Bedienen der Technik so unterstützen, dass es weitestgehend selbstbestimmt bzw. selbstständig gelingt
THEMENBEZOGENES WORTFELD
  • der Chor
  • das Lied
  • das Instrument
  • die Gitarre
  • die Trommel
  • das Schlagzeug
  • das Keyboard
  • der Auftritt
  • die Bühne
  • die Musik
  • zuhören
  • singen
  • tanzen
  • spielen
  • laut
  • leise
  • langsam
  • schnell
  • fröhlich
  • traurig
  • Ich möchte … singen
  • Ich möchte … anhören
  • Welches Lied möchten Sie singen?
  • Wie gefällt Ihnen …?
  • Und jetzt alle gemeinsam!
BEISPIELPLANUNG

Das Chorangebot richtet sich an Beschäftigte, die Freude an Musik haben, also gern Musik hören oder singen bzw. sich zur Musik ausdrücken (mit der Stimme, mit Instrumenten, in Bewegung).

Ausschlaggebend für das Singen von Rock- und Popsongs sind mehrere Faktoren:

Einerseits motiviert der Bekanntheitsgrad vieler Songs aus dem Radio zum Mitsingen und Mittanzen. Es sind unterschiedliche multimediale Umsetzungen vorhanden und können einbezogen werden (z. B. Musikclips, Filme, Konzertmitschnitte, Verarbeitung in Musicals). Andererseits bieten Rock- und Popsongs z.T. markante Wechsel von Strophe und Refrain, chorische Elemente (z. B. bei ABBA-, Queen-, Mumford & Sons-Songs) und einfache Möglichkeiten zur Instrumentalbegleitung (z. B. bei Songs von Gotye, Lykke Li).

Der Einstieg in die Chorprobe erfolgt ritualisiert mit einem Begrüßungslied. Es wird anschließend mit Bildkarten ein Überblick über den Ablauf der Chorprobe gegeben.

Danach folgt das Einsingen, das z. B. folgende Schwerpunkte haben kann:

  • Übungen zum Körperbewusstsein (bewusstes Ein- und Ausatmen, Strecken und Abklopfen des Oberkörpers, Summen und Singen von Tonfolgen),
  • Stimmbildung und Übungen zur Entwicklung des Rhythmusgefühls, Einbezug von Wechselgesängen bzw. wechselndem Rhythmusspiel, um die Aufmerksamkeit für das gemeinsame Singen und Musikmachen zu steigern (ggf. auch Ausschnitte aus Rockkonzerten nutzen, z. B.: https://www.youtube.com/watch?v=_DuoBTJdmds),
  • gemeinsame Improvisation mit den Instrumenten (z. B. abwechselnd spielen und aufeinander hören, unterschiedliche Dynamik einsetzen).

Anschließend wird der Song eingespielt, der neu eingeübt werden soll, z. B.:

Hey Joe (Jimi Hendrix)

Yellow Submarine, Let it be (Beatles)

Money, Money, Money, Mamma Mia (ABBA)

We Will Rock You, We Are the Champions (Queen)

Highway to Hell (AC/DC)

Little Lion Man (Mumford & Sons)

Das Beste (Silbermond)

Wake Me Up When September Ends (Green Day)

Somebody That I Used To Know (Gotye)

I Follow Rivers (Lykke Li)

Zunächst wird ein markanter Teil des Songs ausgewählt (z. B. die erste Strophe oder der Refrain). Dieser wird vorgesungen und der Textinhalt erklärt. Dabei werden Bilder einbezogen, die den Inhalt des Songs illustrieren. Es könnte hier ggf. auch auf den Musikclip zurückgegriffen werden. Das Singen der ausgewählten Songsequenz mit Unterstützung durch ein Begleitinstrument oder die Karaoke-Version wird mehrfach wiederholt.

Anschließend kann es sinnvoll sein, die Gruppe im Sinne einer ‚Stimmprobe‘ zu teilen, sodass die Sänger_innen und die Spieler_innen der Instrumente ihre Parts zunächst getrennt üben. Um den Text und die Melodie zu lernen, bietet es sich an, Gesten zu nutzen. Die genaue (englische) Aussprache aller Wörter steht in der Chorprobe jedoch nicht im Vordergrund. Das Singen zu (verlangsamten) Karaoke-Versionen kann das Erlernen von neuen Melodien und Texten unterstützen.

In einem zweiten Schritt setzt dann das gemeinsame Proben ein. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der gemeinsamen Umsetzung des Songs (gemeinsames Anfangen, Zwischenspiel abwarten, eine ähnliche Tonlage treffen etc.). Um Klangvorstellungen zu unterstützen und z. B. auch eine deutlichere Aussprache beim Singen einzuüben, können lebensnahe Bilder genutzt werden (z. B. „So laut singen wie im Fußballstadion“).

Bei Musikangeboten können technische Hilfen bewusst mit einbezogen werden (z. B. GoTalk im Sinne einer ‚Jukebox‘ mit gespeicherten Liedanfängen oder der BIGmack zur Wiedergabe spezifischer Geräusche und Klänge). Mit UK-Geräten können nonverbal kommunizierende Personen z. B. auch die Call-Funktion bei Musikstücken mit Call-Response-Muster übernehmen.

Zum Abschluss der Chorprobe werden zur Wiederholung ein oder mehrere bereits erarbeitete Songs miteinander gesungen. Außerdem wird ein Ausblick auf die kommende Probe gegeben, ggf. wird gemeinsam ein weiterer Song zum Einüben ausgewählt.

Die Chorprobe wird ritualisiert beendet. Es wird ein kurzes Feedback zum Verlauf der Probe gegeben (z. B. was gut geklappt hat, was ‚offene Baustellen‘ sind), danach folgt ein musikalischer Schlusspunkt (Trommelwirbel, Klangteppich, Abschlusslied o. Ä.).

Um eine Aufführung mit Rock- und Popmusik zu gestalten, wäre z.B. eine Medley-Variante denkbar, die v. a. die bekannten Stellen der ausgewählten Songs in den Mittelpunkt rückt. Als Übergänge zwischen den einzelnen Songs bietet sich ein immer gleiches rhythmisches Zwischenspiel (z. B. Trommel- oder Schlagzeug-Einlage, Body Percussion) an. Auch kleine Tanz- und Bewegungsfolgen können mit einbezogen werden.