Menschenbild

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Experteninterview

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Prof. Dr. Tobias Bernasconi
Universität zu Köln

Was sind Menschenbilder?

Das folgende Beispiel ist eine Überzeichnung und dient als Reflexionsbasis, um bestimmte Aspekte des Themas „Menschenbild“ hervorzuheben. Frau Bäcker ist pädagogische Fachkraft an einem Arbeits- und Bildungsort für Menschen mit schwerer Behinderung. Sie duzt die von ihr begleiteten Menschen seit ihrem ersten Arbeitstag. Zu einigen Personen hat sie ein besonders enges Verhältnis: Frau Recke, eine 40-jährige Beschäftigte, wird von ihr auch in der Öffentlichkeit „Schnucki“ genannt oder auch gerne einmal in den Arm genommen. Frau Bäcker hat Frau Recke zum Geburtstag ein Kuscheltier geschenkt, weil diese – laut Aussage von Frau Bäcker – Kinderspielzeug mag. Manchmal möchte Frau Recke nicht an den Angeboten der Musikgruppe teilnehmen, dann schimpft Frau Bäcker mit ihr und sagt: „Lerne endlich, dich einzufügen!“
Nach dem Mittagessen geht die gesamte Gruppe immer spazieren. Wenn Frau Recke zu weit zurückbleibt, ruft Frau Bäcker: „Schnucki, lauf mal ein bisschen schneller!“ Läuft Frau Recke auch dann noch langsamer als der Rest der Gruppe, schimpft Frau Bäcker mit ihr: „Lerne endlich, dich an das Tempo der Gruppe anzupassen. Wir haben nicht ewig Zeit!“ Manchmal ist das nicht nötig, weil Frau Recke neben Frau Bäcker geht. Dann wird Frau Recke von Frau Bäcker umarmt und für ihr gutes Verhalten gelobt.

Menschenbilder

Portraits ©

Es ist zunächst hilfreich, den Begriff Menschenbilder wörtlich zu nehmen und sich Bilder vorzustellen, welche je nach Künstler_in höchst unterschiedlich gestaltet sind. Das Thema des Bildes ist der Mensch und die Fragen, die sich der oder die Künstler_in im Bild zu beantworten suchen, lauten:

  • Wer ist der Mensch?
  • Was macht einen Menschen aus?
  • Wozu ist er bestimmt? [1]

Orientierungsrahmen

Menschenbilder bieten einen – bewussten oder unbewussten – Orientierungsrahmen im sozialen Miteinander und prägen die Sicht aufeinander.

Sie sind damit nicht folgenlos, denn sie bestimmen, wie Menschen sich gegenseitig wahrnehmen und zueinander verhalten [2]. Die pädagogische Fachkraft Frau Bäcker im einleitenden Fallbeispiel hat sich ein „Bild“ von ihrer Mitarbeiterin Frau Recke gemacht und begründet damit ihr Verhalten ihr gegenüber: wie sie sie anspricht, wie sie sie berührt, die Erwartungen, die sie an sie stellt – all das tut Frau Bäcker auf der Grundlage ihrer Vorstellung darüber, was sie meint, wer Frau Recke ist, was sie braucht und mag. Gleichzeitig hat sie eine Meinung darüber, wie Menschen sich verhalten sollen (z. B. an Gruppenangeboten teilnehmen) oder was sie brauchen (z. B. einen Spaziergang an der frischen Luft oder körperliche Nähe).

Spezifische Aspekte des Menschseins

Meistens fokussieren Menschenbilder einen bestimmten Aspekt des Menschen, wie beispielsweise seine Intelligenz oder sein körperliches Leistungsvermögen. Da die soziale menschliche Interaktion so komplex ist, ermöglichen Menschenbilder es, strukturiert über den Menschen nachzudenken. Im pädagogischen Kontext helfen sie, das eigene Handeln zu reflektieren und sich über eigene Erwartungen Gedanken zu machen.

Kultureller Kontext

Menschenbilder sind nicht zeitlos, d. h., sie sind immer auch abhängig von dem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext, aber auch von individuellen Faktoren, wie religiösen oder persönlichen Erfahrungen und Überzeugungen. Ihre Herleitung kann u. a. auf wissenschaftliche oder alltagstheoretische Weise erfolgen [3]. Darüber hinaus ist die Sicht auf Menschen mit Behinderung im Bereich der Behindertenhilfe auch stark durch die Qualifikationen der verschiedenen Berufsgruppen bzw. durch die Erfahrungen der Mitarbeiter_innen geprägt [4]. Mitarbeiter_innen, die aus dem Pflegebereich kommen, haben also einen anderen Blick auf Menschen mit Behinderung als Therapeut_innen, Pädagog_innen, Mediziner_innen oder Eltern.

Zwei Gruppen von Menschenbildern

Obwohl es demnach unzählige Menschenbilder gibt, lassen sie sich doch grob in zwei Gruppen einteilen [5]:

  • Die eine Gruppe umfasst Menschenbilder, die erklären sollen, was allen Menschen gemeinsam ist.
  • Die andere Gruppe fokussiert die menschlichen Unterschiede. So gibt es beispielsweise Bilder, die bestimmte Idealvorstellungen vom Menschen entwickeln und eine Norm (Gemeinsamkeit) festlegen, wie schön, gesund oder leistungsfähig ein normaler Mensch sein solle. Menschen mit Behinderung erscheinen dann, sofern sie diesen Idealen nicht entsprechen, als negative Abweichung von dieser Norm.

Infantilisierendes Menschenbild

Es gibt Menschenbilder, die sich nicht nur damit befassen, wie der Mensch aussehen soll, sondern auch damit, wie er sich zu verhalten habe. Dahinter steht mehr oder weniger bewusst die Annahme, dass es ein normales Verhalten gibt, wobei häufig offenbleibt, was genau die Normalität eigentlich ist bzw. sein soll. Werden Menschen mit geistiger oder schwerer Behinderung – wie in dem Fallbeispiel dargestellt – kleinkindlich behandelt, setzt das infantilisierende Menschenbild den Menschen mit einer geistigen oder schweren Behinderung einem ewigen Kind gleich. Entsprechend wird dieser Mensch wie ein Kind behandelt, indem die Stufen der (früh-)kindlichen Entwicklung als Maßstab für das menschliche Verhalten angelegt werden.

Normierte Menschenbilder vs. ganzheitlicher Blick

Im Zusammenhang mit Menschen mit geistiger oder schwerer Behinderung wird – zumindest in der Behindertenpädagogik – die Diskussion über Menschenbilder in der Gesellschaft intensiv verfolgt und diskutiert. Wer ist der Mensch? Was macht einen Menschen aus? Wozu ist er bestimmt? Das alles sind Fragen von existenzieller Bedeutung. Zeitweise gab es Bestrebungen, das Wesen von Menschen mit Behinderung mit eigenen, behinderungsspezifischen Beschreibungen zu versehen. Also ein Menschenbild zu entwickeln, das Antworten geben kann auf die Fragen: Wer ist der Mensch mit schwerer Behinderung? Was macht den Menschen mit schwerer Behinderung aus? Wozu ist der Mensch mit schwerer Behinderung bestimmt? Von solchen Überlegungen („Sonderanthropologie“) ist man mittlerweile wieder abgekommen, unter anderem auch aus dem Grund, weil es dazu führen könnte, Menschen mit und ohne Behinderung unterschiedlichen Menschenbildern zuzuordnen. Wenn dann argumentiert würde, dass der Mensch mit schwerer Behinderung kein „normaler Mensch“ ist, sondern ein „Mensch mit schwerer Behinderung“, könnte dies sowohl ethisch als auch rechtlich verheerende Folgen haben (s. ethische Fragen). Für den Personenkreis der Menschen mit schwerer Behinderung sind vor allem solche Menschenbilder riskant, die sich ausschließlich an der Normalentwicklung des Verhaltens, des Denkens und Sprechens, dem Verstand oder der Vernunft orientieren. Dadurch, dass Menschen mit schwerer Behinderung in bestimmten Bereichen nicht der Normalentwicklung folgen, werden sie durch diese normorientierten Sichtweisen schnell abgewertet. Es ist demnach notwendig, sich in der Arbeit mit Menschen mit schwerer Behinderung nicht an Menschenbildern zu orientieren, die das Menschsein vorrangig über die Verstandes- oder Vernunftfähigkeit definieren, sondern sich ganzheitlicheren Vorstellungen über den Menschen zuzuwenden [6].

Grenzen des Verstehens

Einigkeit besteht darin, dass man den anderen Menschen, ob mit oder ohne Behinderung, nie ganz verstehen kann. Das bedeutet, alle Versuche, das Gegenüber zu begreifen, sind nicht mehr als notwendige Annäherungsversuche. Jedes Bild von dem Anderen ist also immer nur so etwas wie eine Skizze. Wie der andere Mensch wirklich ist, wird nie vollständig erfahrbar sein. So gesehen bleibt das Wesen eines anderen Menschen unbestimmt [7].

  • Menschenbilder prägen jedes zwischenmenschliche Verhalten, denn sie bestimmen, was an einer Person wie gesehen wird.
  • Es gibt unzählige Menschenbilder. Sie werden durch Wissen und Erfahrungen beeinflusst.
  • Menschen mit Behinderung erscheinen oft als Abweichung von dem, was als „normal“ oder „ideal“ wahrgenommen wird.
  • Menschenbilder berücksichtigen oft nur einen Ausschnitt des Menschen – sie bleiben Annäherungsversuche an einen anderen Menschen.

Welche Bedeutung haben Menschenbilder in der Arbeit mit Menschen mit schwerer Behinderung?

Teilaspekte werden gesehen

Menschenbilder sieht man nicht, aber man kann sie daran erkennen, wie jemand mit einem Menschen umgeht, wie er über den Menschen spricht, welches Bild er von ihm hat. Sie sind also nicht direkt „sichtbar“, zeigen sich aber im konkreten Handeln. Sieht sich ein Arzt einen Patienten an, so sieht er in diesem Merkmale des medizinischen Menschenbildes (gesund, krank, Funktionsfähigkeit des Körpers usw.) und übersieht möglicherweise andere Merkmale (kreativ, humorvoll, begabt). Indem die jeweilige Vorstellung von der anderen Person bestimmte Merkmale betont oder vernachlässigt, beeinflusst sie die Wahrnehmung von Fähigkeiten, Stärken und Schwächen [8].

Interaktion und Angebote

In der pädagogischen Arbeit, hier in Bezug auf Menschen mit geistiger oder schwerer Behinderung, beeinflussen Menschenbilder maßgeblich den Umgang mit dieser Personengruppe. So werden beispielsweise auch auf der Grundlage des vorherrschenden Menschenbildes pädagogische Angebote ausgewählt und geplant. Wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch entwicklungs- und bildungsfähig ist, werden Angebote anders geplant, als wenn die Überzeugung vorherrscht, dass ohnehin kein Entwicklungspotenzial vorliegt.

Das einleitende Fallbeispiel verdeutlicht, dass sich das Bild von Frau Recke – der Beschäftigten mit geistiger Behinderung – in der Sprache, in den Berührungen und den Erwartungen, also in der Haltung von Frau Bäcker, der pädagogischen Fachkraft, zeigt.

Wechselwirkung

Gerade in Abhängigkeitsverhältnissen ist die Haltung der pädagogischen Fachkräfte sehr mächtig. Sie beeinflusst nicht nur maßgeblich das subjektive Menschenbild des Menschen mit Behinderung (wer bin ich?), sondern sie erzeugt auch, dass der Mensch mit Behinderung sich entsprechend verhält (wozu bin ich bestimmt?).

In Bezug auf die Bedeutung zwischenmenschlicher Aktionen wird der Haltung eine große Bedeutung beigemessen. Wenn ein Mensch nur auf eine bestimmte Art und Weise angesprochen und gefördert wird, bestätigt seine Reaktion häufig das Verhalten, das auch erwartet wurde. Man spricht deshalb von einer Wechselwirkung zwischen Menschenbild und Praxis. Diese Wechselwirkung (siehe Abbildung) beschreibt grundlegend die menschliche Interaktion:

Wechselwirkung Menschenbild / praktisches Handeln

Das Menschenbild bringt ein Verhalten, also praktisches Handeln, hervor. Dieses Verhalten beeinflusst und verändert wiederum das Menschenbild, das jemand von seinem Gegenüber hat [9].

Verhaltensweisen infolge verschiedener Menschenbilder

Es ist deutlich geworden, welchen Einfluss das jeweilige Menschenbild auf das pädagogische Handeln hat. Wie Menschen sich verhalten, hat maßgeblich auch damit zu tun, wie sie behandelt werden. D.h. wie sie gesehen werden, also welches Bild das Gegenüber sich macht. Konkret gehört hierzu z.B. der Fall, dass sich erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung kindlich verhalten, nachdem sie ausschließlich auf kindliche Art und Weise angesprochen und gefördert werden. Oder Menschen verhalten sich auffällig, wenn schon davon ausgegangen wird, dass sie sich ohnehin auffällig verhalten werden und sie schon „vorsorglich“ zur Ruhe aufgefordert werden. Oder Menschen verweigern die Arbeit, wenn schon davon ausgegangen wird, dass sie ohnehin nicht arbeiten werden. Oder sie werden nicht selbstständiger, wenn ohnehin davon ausgegangen wird, dass sie etwas nie lernen werden, usw. Das Bild von Menschen mit Behinderung wird demnach im eigenen pädagogischen Tun sichtbar und prägt auch die Möglichkeitsräume der Menschen mit schwerer Behinderung.

Infantilisierendes Menschenbild

Menschenbilder offenbaren sich in vielerlei Aspekten. Das einleitende Fallbeispiel sollte aufzeigen, wie ein infantilisierendes Menschenbild von Mitarbeiter_innen in deren Handeln sichtbar werden kann. Einige der folgenden Punkte aus dem Fallbeispiel verweisen auf ein solches, verkindlichendes Menschenbild:

Diese Liste ließe sich fortführen. Deutlich wird in der Auflistung, dass sich Menschenbilder auf unterschiedlichen Ebenen identifizieren lassen. Sie prägen nicht nur das konkrete Miteinander, sondern wirken weit darüber hinaus. So verfestigen sie sich in Strukturen des Alltags wie in Gruppennamen (Sonnenschein), Morgenkreisen, Regeln (Essenszeiten) und vielem anderen mehr.

  • Menschenbilder beeinflussen die Erwartungen, die an das Gegenüber gestellt werden. Sie bilden damit eine Grundlage, auf der alltägliches, pädagogisches und organisatorisches Handeln begründet werden kann.
  • Menschenbilder stehen in Wechselwirkung zur Praxis. Sie werden durch sie bestätigt oder verändert.
  • Die Haltung von Mitarbeitern bestimmt, welche Arbeits- und Bildungsangebote Menschen mit schwerer Behinderung zur Verfügung stehen.

Welche Chancen und Herausforderungen ergeben sich aus der Beschäftigung mit dem Thema „Menschenbilder“?

Reflexion des eigenen Handelns

Die Auseinandersetzung mit dem Thema „Menschenbilder“ weist an dieser Stelle auf eine Eigenschaft des Berufsbildes der Mitarbeiter_innen hin, denn diese befinden sich immer in einer Doppelrolle: Einerseits müssen sie Ideen anwenden, andererseits müssen sie diese aber auch stetig hinterfragen [10]. Dieses Hinterfragen und Bewerten des eigenen Handelns bildet einen wichtigen Aspekt professioneller Arbeit.

Die Aufgaben in der Arbeit mit Menschen mit schwerer Behinderung sind vielfältig und verfolgen u. a. das Ziel, gesellschaftliche Teilhabe für alle zu ermöglichen. Dies geschieht z. B. im Rahmen von Bildung, Förderung und Therapie. Wie oben dargestellt, kann die konkrete Ausgestaltung dieser Aufgaben durch das Menschenbild der Mitarbeiter_innen stark beeinflusst werden. Um Angebote angemessen erarbeiten zu können, benötigen Mitarbeiter_innen deshalb die Möglichkeit, ihre eigene Haltung zu hinterfragen und sich bewusst zu werden, welche Bilder ihr Verhalten leiten.

Die Reflexion des Menschenbildes bietet folgende Chancen:

Erwartungen (ver-)ändern

  • Ein selbstkritischer Zugang ermöglicht es, unbewusste Erwartungen zu erkennen und gegebenenfalls im Interesse der Menschen mit Behinderung zu verändern.

Gesellschaftliche Teilhabe

  • Vor diesem Hintergrund kann eine Veränderung der Umgangsformen, Angebote und Strukturen mit dem Ziel der verbesserten gesellschaftlichen Teilhabe erreicht werden.

Verbesserung der Qualität

  • Die Qualität der Arbeit mit Menschen mit schwerer Behinderung kann maßgeblich über eine angemessene Haltung der pädagogischen Mitarbeiter_innen gestärkt oder verbessert werden. Neben fundiertem Wissen über die Arbeit mit Menschen mit Behinderung kann die Haltung also eine wichtige Rolle spielen.

Gleichzeitig können aus diesen Aufgaben auch Herausforderungen abgeleitet werden:

Menschenbilder bewusst machen

  • Menschenbilder sind teilweise unbewusst und müssen einer Auseinandersetzung erst zugänglich gemacht werden. Mitarbeiter_innen benötigen „Werkzeuge“, um sich ihrer Menschenbilder bewusst zu werden und diese beschreiben zu können.

Vor-Urteile

  • Vorstellungen vom Menschen sind über lange Zeit gewachsen und dadurch nicht leicht oder schnell veränderbar.

Gesellschaftliche Debatten

  • Menschenbilder entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern sind auch beeinflusst durch aktuelle gesellschaftliche Debatten und Normvorstellungen. Diese können an Arbeits- und Bildungsorten nur bedingt verändert werden.

Wirksamkeit

  • Menschenbilder werden, wie oben beschrieben, auf verschiedenen Ebenen wirksam, also z. B. im Verhalten einzelner Mitarbeiter_innen oder in Alltagsroutinen an Arbeits- und Bildungsorten. Eine grundlegende Veränderung der Angebote einer ist daher nicht durch einzelne Mitarbeiter_innen allein erreichbar. Veränderungen in Bezug auf ein teilhabeorientiertes Angebot an Arbeits- und Bildungsorten muss daher auf Ebenen gestaltet werden, also z. B. auch in der Leitung Berücksichtigung finden.

Was ist notwendig, um das Thema „Menschenbilder“ in der Arbeit mit Menschen mit schwerer Behinderung berücksichtigen zu können?

„Was Menschen konkret tun, hängt nur teilweise von ihren Überzeugungen und Einstellungen ab. Sie orientieren sich auch an anderen Kriterien, etwa daran, was äußere Bedingungen zulassen und welcher Aufwand damit verbunden wäre. Umgekehrt hat das, was ihnen tatsächlich möglich ist, auch Einfluss auf das, was sie für wichtig halten.“ [11]

Mit dem Zitat wird deutlich, dass es nicht ausreicht, die eigene Haltung verändern zu wollen. Tatsächlich spielt es auch eine Rolle, ob Mitarbeiter_innen das Gefühl haben, dass sich der Aufwand „lohnt“ und konkrete Handlungsmöglichkeiten erkennbar sind.

Konzeptionelle Grundlage

  • Das heißt, dass z. B. die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter_innen an Arbeits- und Bildungsorten eine wichtige Voraussetzung dafür bilden, welche Bilder von Menschen mit Behinderung sich tatsächlich durchsetzen können. Die Sicht auf Menschen mit schwerer Behinderung spiegelt sich in den Konzeptionen des Trägers, den Räumlichkeiten, aber auch in der Wertschätzung des Personals durch die Einrichtungsleitung wider. Dazu gehört ebenso, dass die Mitarbeiter_innen auch Gelegenheiten haben müssen, sich mit ihrem persönlichen Bild von Behinderung auseinanderzusetzen. Als notwendig hierfür werden folgende Voraussetzungen erachtet [12]:

Eigene Haltung

  • Pädagogische Mitarbeiter_innen sollen eine grundsätzliche Bereitschaft dazu mitbringen, sich mit ihrer eigenen Haltung gegenüber Menschen mit schwerer Behinderung auseinanderzusetzen.

Offenheit

  • Im Team sollten eine Offenheit und eine vertrauensvolle Haltung gegenüber jedem Teammitglied herrschen, sodass eine selbstkritische Reflexion möglich wird.

Reflexion

  • Eine Reflexion der eigenen Erwartungen und Vorstellungen ist ein Prozess, für den Raum und Zeit zur Verfügung gestellt werden müssen. Erst eine Betrachtung der die Praxis, die nicht sofort zu Handlungen führen muss, kann zu neuen Einsichten führen.

Bedingungen

  • Es müssen die personellen, sachlichen und ideellen Bedingungen geschaffen werden, um eine wertschätzende, reflektierte Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung umsetzen zu können.

Veränderungen

  • Die Beschäftigung mit der Thematik und die eventuellen Veränderungen müssen von allen Verantwortungsebenen wahrgenommen, getragen und umgesetzt werden.

Quellen

[1] vgl. Bernasconi & Böing 2015, S. 67 f. [2] vgl. Dederich 2017, S. 162 [3] vgl. ebd. [4] vgl. Janz et al. 2006, S. 13 [5] vgl. Goll 2013, S. 233 [6] vgl. Dederich 2017, S. 163 [7] vgl. Speck 2012, S. 48 f. [8] vgl. Dederich 2006, S. 543 ff. [9] vgl. Feuser 1996 nach Dederich 2006, S. 548 [10] vgl. Bernasconi & Böing 2015, S. 70 [11] Janz et al. 2006, S. 15 [12] vgl. Bosch 2005, S. 167 ff.

Literatur

Bernasconi, T. & Böing, U. (2015): Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung: Kohlhammer Verlag.

Bosch, E. (2005): Wir wollen doch nur euer Bestes! – Die Bedeutung der kritischen Selbstreflexion in der Begegnung mit Menschen mit geistiger Behinderung, Lebenshilfe-Verlag in Kooperation mit dem DGVT-Verlag: Tübingen.

Dederich, M. (2006): Geistige Behinderung – Menschenbild, Anthropologie und Ethik. In: Wüllenweber, E.; Theunissen, G. & Mühl, H. (Hg.): Pädagogik bei geistigen Behinderungen. Ein Handbuch für Studium und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer, S. 542–557.

Dederich, M. (2016): Ethik. In: Dederich, M.; Beck, I.; Antor, G. & Bleidick, U. (Hg.): Handlexikon der Behindertenpädagogik. Stuttgart, S. 315–319.

Dederich, M. (2017): Schwere und mehrfache Behinderung – Philosophische Aspekte. In: Fröhlich, A. D.; Heinen, N.; Klauß, T. & Lamers, W. (Hg.): Schwere und mehrfache Behinderung – interdisziplinär. Oberhausen, Rheinl.: ATHENA-Verlag (Impulse: Schwere und mehrfache Behinderung, 1), S. 159–175.

Feuser, G. (1996): Zum Verhältnis von Menschenbild und Integration –„Geistigbehinderte gibt es nicht!“. [Zugriff am 03.12.2022]

Flessau, K.-I. (1984): Schule der Diktatur. Lehrpläne und Schulbücher des Nationalsozialismus. Frankfurt am Main: Ehrenwirth.

Goll, H. (2013): Menschenbilder. In: Theunissen, G.; Kulig, W. & Schirbort, K. (Hg.): Handlexikon Geistige Behinderung. Schlüsselbegriffe aus der Heil- und Sonderpädagogik, Sozialen Arbeit, Medizin, Psychologie, Soziologie und Sozialpolitik. Stuttgart: Kohlhammer (Heil- und Sonderpädagogik), S. 233–235.

Janz, F.; Klauß, T.; Lamers, W. & Strauch, O. (2006): Untersuchungen zum ‚Menschen-Bild‘. Welche Vorstellungen haben Lehrkräfte und Eltern von Menschen mit schwerer Behinderung? In: Sonderpädagogische Förderung, Heft 2, S. 134–152.

Speck, O. (2012): Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Lehrbuch zur Erziehung und Bildung. München: Ernst Reinhardt Verlag, hier vor allem S. 45–113.

Trus, A. (1995): „… vom Leid erlösen“ – Zur Geschichte der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen. Texte und Materialien für Unterricht und Studium. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag.

siehe auch

 

IMPULSFRAGEN & REFLEXIONSÜBUNGEN

  • Wie wird mit Menschen mit schwerer Behinderung in der Einrichtung gesprochen?
  • Wie und in welchen Situationen sprechen die Mitarbeiter_innen über Menschen mit schwerer Behinderung?
  • Welche Angebote in den Gruppen orientieren sich an Interesse erwachsener Menschen?
  • Gibt es Situationen in denen Mitarbeiter_innen gegenüber erwachsenen Menschen mit schwerer Behinderung einen Erziehungsauftrag haben? Wenn ja, welche Maßnahmen sind in diesen Situationen angemessen?
  • Inwiefern zeigt sich in der räumlichen Gestaltung der Einrichtung das vertretene Menschenbild?
  • Wie wird über Menschen mit Behinderung in den Medien berichtet?
  • Welchem Menschenbild begegnen Sie, wenn Sie mit Menschen mit schwerer Behinderung außerhalb der Einrichtung unterwegs sind?
  • Wie können Mitarbeiter_innen reagieren, wenn sie mit ablehnenden Haltungen gegenüber Menschen mit schwerer Behinderung konfrontiert werden?
  • Schauen Sie sich einen Raum Ihrer Tagesstätte an, in dem täglich Angebote umgesetzt werden.
  • Welches Bild vermittelt der Raum von den dort durchgeführten Angeboten? Schauen Sie sich dafür z. B. folgende Merkmale an:
    • Einrichtungsgegenstände
    • Dekoration
    • Hilfsmittel
    • Atmosphäre
  • Was könnte verändert werden, um zu betonen, dass an diesem Ort Arbeits- und Bildungsangebote für erwachsene Menschen durchgeführt werden?

„Wenn ich einem „behinderten“ Menschen begegne, ihn anschaue und denke, wie er denn sein könnte, beschreibe ich mich selbst – meine Wahrnehmung des anderen. Ob ich die daraus entstehende Chance nutze, mich selbst zu erkennen, steht auf einem anderen Blatt …!“ (Feuser 1996)

  • Diskutieren Sie das folgende Zitat im Hinblick auf Ihre Erfahrungen im Umgang mit Menschen mit schwerer Behinderung.
  • Stimmen Sie mit der Grundaussage des Zitats überein? Warum?

Feuser, Georg (1996): „Geistigbehinderte gibt es nicht!“ Zum Verhältnis von Menschenbild und Integration.

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(weiterführende) MATERIALIEN

Bohlken, E. (2011): Anthropologische Grundlagen einer Ethik der Behindertenpädagogik. In: Moser, V.; Horster, D. (Hg.): Ethik in der Behindertenpädagogik. Menschenrechte, Menschenwürde, Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer (Heil- und Sonderpädagogik), S. 59-74.
Dederich, M. (2000): Behinderung – Medizin – Ethik. Behindertenpädagogische Reflexionen zu Grenzsituationen am Anfang und Ende des Lebens. Zugl.: Köln, Univ., Habil.-Schr. 1. Aufl., Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt (Klinkhardt-Forschung).
Fornefeld, B. (2008): Menschen mit Komplexer Behinderung. Klärung des Begriffs. In: Fornefeld, B. (Hg.): Menschen mit Komplexer Behinderung. Selbstverständnis und Aufgaben der Behindertenpädagogik. München, Basel: E. Reinhardt (Sonderpädagogik), S. 50-81.
Goll, H. (1999): Menschenbilder in der Erwachsenenbildung. Impressionen aus der Praxis mit Menschen, die von anderen Menschen als „schwerst behindert“ bezeichnet werden. In: Rieg-Pelz, A.; Wilder, B. (Hg.): Mut zur Qualität. Erwachsenenbildung der Zukunft gestalten (74-77). Berlin: Gesellschaft Erwachsenenbildung und Behinderung.
Haubl, R. (2015): Behindertenfeindlichkeit – narzisstische Abwehr der eigenen Verletzlichkeit. In: Schnell, I. (Hg.): Herausforderung Inklusion. Theoriebildung und Praxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 104-115.
Mürner, Ch.; Sierck, U. (2013): Behinderung. Chronik eines Jahrhunderts. Lizenzausg. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung (Schriftenreihe/ Bundeszentrale für Politische Bildung, 1391).
Pörtner, M. (2006): Ernstnehmen – zutrauen – verstehen. Personzentrierte Haltung im Umgang mit geistig behinderten und pflegebedürftigen Menschen. 5. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta (Konzepte der Humanwissenschaften).