Politische Bildung

PROFIL

Mitreden, mitbestimmen, mitgestalten (vgl. Bundesverband evangelische Behindertenhilfe 2019, S. 23) – mehr Demokratie wagen an Arbeits- und Bildungsorten für Menschen mit schwerer Behinderung!

Politik – Handeln in Gruppen

Kann „Politische Bildung“ wirklich Thema eines Angebots an Arbeits- und Bildungsorten für Menschen mit schwerer Behinderung sein? Sind politische Themen nicht zu abstrakt, zu komplex, zu weit weg vom sozialen Umfeld der Beschäftigten? Oft wird Menschen mit (schweren) Behinderungen eine politische Bildungs- und Urteilsfähigkeit per se abgesprochen. Doch Politik beginnt im Alltag, immer dort, wo in Gruppen gehandelt wird. Das Zusammenleben in Gruppen erfordert Regeln, die in einer Demokratie gemeinsam aufgestellt und eingehalten werden sollten. Auch das Aushandeln von Aufgaben und Regeln an Arbeits- und Bildungsorten ist politisch.

Inkludierende Kommunikationsmuster schaffen

Wenn die gesellschaftliche Partizipation aller Bürger_innen das Ziel in einer Demokratie ist, dann ist die Voraussetzung dafür, dass diesbezügliche Kompetenzen bereits äußerst kleinschrittig im Alltag erworben werden können.

Eine eigene Meinung äußern zu können, für oder gegen eine Sache zu streiten, einen Kompromiss zu finden, sich über politische Themen im nahen und weiteren Umfeld auszutauschen – dafür müssen sowohl sprachliche als auch inhaltliche Barrieren reflektiert und abgebaut werden.

An Arbeits- und Bildungsorten sind „inkludierende Kommunikationsmuster“ (vgl. Markowski 2018, S. 274) aufzubauen, die zum einen den Informationsfluss in der Einrichtung regeln und sich zum anderen in einer kommunikativen Haltung der Mitarbeiter_innen zeigen, bei der nicht über, sondern mit den Beschäftigten die sie betreffenden Themen besprochen werden. Mitarbeiter_innen nehmen beim Erheben von Wünschen, Bedürfnissen und Interessen eine Moderator-Rolle ein. Bei Bedarf handeln sie auch als ein Sprachrohr für die Bedürfnisse von einzelnen Beschäftigten, die sich nicht oder nur sehr schwer in den Aushandlungsprozess einbringen können.

Wählen und Mitbestimmen

Demokratie bedeutet auch, dass nicht jede_r über alles entscheiden muss. Durch eine Wahl können Entscheidungen an einzelne Personen oder Gruppen delegiert werden.

Ein zentraler Aspekt politischer Mitbestimmung ist daher das Ausüben des Wahlrechts. Die Reform des allgemeinen Wahlrechts im Jahre 2019 ermöglicht es nun auch Menschen mit schwerer Behinderung ihr Wahlrecht, z. B. bei der Bundestagswahl, auszuüben. Damit eigene politische Entscheidungen im größeren Rahmen getroffen werden können, ist ein Wissen über die verschiedenen Wahlmöglichkeiten, die auch über den persönlichen Nahbereich hinausgehen können, sowie den Ablauf von Wahlen erforderlich. Es ist notwendig, das Wählen und Mitbestimmen konkret zu üben. Dafür sind an Arbeits- und Bildungsorten Gestaltungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten sowie Regeln des gemeinsamen Aushandelns von Entscheidungen zu etablieren.

Das Ziel von Angeboten zur politischen Bildung ist es, Interesse an unterschiedlichen politischen Themen zu wecken. Vor allem sollte jedoch der Nutzen eigener Mitwirkung erfahrbar werden. Arbeits- und Bildungsorte sind in diesem Sinne ein „Partizipationsraum“ (vgl. Markowski 2018, S. 274) für Menschen mit schwerer Behinderung, an dem sie Selbstwirksamkeit und soziale Anerkennung erleben und gestärkt werden für die weiterführende gesellschaftliche Beteiligung.

THEMENSPEKTRUM

Die folgenden exemplarischen inhaltlichen Impulse sollen die Breite des Themenspektrums herausstellen. Sie beziehen sich sowohl auf Mitarbeiter als auch auf Beschäftigte.

  • individuelle Signale der Zustimmung und Ablehnung (z. B. Anspannung des Körpers, Mimik & Gestik) in der Gruppe kennen
  • eigene Ansichten zu verschiedenen Alltagsthemen entwickeln bzw. als solche wahrnehmen (z. B. die Meinung darüber äußern, was gutes Essen, angenehme Pflege, schöne Dekoration ist)
  • sich über unterschiedliche Meinungen und Ansichten zu zweit oder in der Gruppe austauschen (z. B. über das Essen, die Kleidung oder Pausengestaltung)
  • verschiedene Medien zur politischen Meinungsbildung nutzen:
    • Bilder zu aktuellen Nachrichten anschauen und sich darüber austauschen
    • Kieznachrichten bzw. Ortsblätter lesen
    • Nachrichtensendungen ansehen
    • (Online-)Zeitungen in Leichter Sprache lesen
    • im Internet recherchieren, Webseiten in Leichter Sprache lesen bzw. sich vorlesen lassen
    • Bibliothek besuchen
  • Unterschied zwischen Werbung und Information erkennen (z. B. Werbung und Nachrichten im Fernsehen unterscheiden)
  • sich mit Themen der Weltpolitik beschäftigen (z .B. Ernährung, Flucht, Kriege), sich dabei von persönlichen Interessen leiten lassen
  • Mitglieder des Beschäftigten-Beirats am Arbeits- und Bildungsort kennen; Kommunikationswege kennen, um diese ansprechen zu können
  • weitere, gesetzlich vorgegebene Interessensvertretungen in Organisationen und Kommunen kennen (z. B. Bewohnerbeirat, Frauenbeauftragte, Behindertenbeirat)
  • Einrichtungen des Gemeinwesens und ihre Arbeit kennenlernen (z. B. Bürgeramt beim Verlängern des Personalausweises)
  • Gemeindevertreter_innen kennenlernen (z. B. Bürgermeister, Abgeordnete zu einer Veranstaltung in der Einrichtung einladen)
  • Politik auf Orts-, Landes- und Bundesebene thematisieren, u. a. durch regelmäßiges gemeinsames Ansehen der Nachrichten in Leichter Sprache, das Lesen der Zeitung, politische Themenwochen (z. B. vor einer Wahl oder zu einzelnen Themen wie Umwelt-, Gesundheits-, Verkehrspolitik)
  • Bedeutung von Rechten erlebbar machen und wichtige gesetzliche Regelungen kennen (in realen Situationen oder Rollenspielen, mit Bildern und Filmen verdeutlichen):
    • Grundrechte (z .B. Demonstrationsrecht, Recht auf körperliche Unversehrtheit, Recht auf Eigentum, Religionsfreiheit, Schutz der Privatsphäre)
    • Einhalten der Straßenverkehrsordnung
    • Strafrecht (z. B. Was passiert bei Diebstahl?)
    • Aufgaben des rechtlichen Betreuers erklären (z.B. mit Hilfe von Informationen in Leichter Sprache, Bildern)
  • Funktion von Verträgen erleben (u. a. Ämterplan in der Gruppe, Nutzungsverträge z. B. von Handys, Garantie- & Rückgaberecht)
  • Personen und Institutionen kennenlernen, die Gesetze überwachen und kontrollieren (z. B. mit Polizisten sprechen, Gericht besuchen)
  • Studientage in der Einrichtung zu wichtigen rechtlichen Themen durchführen (z. B. Entwicklung einer Mitwirkungsverordnung, Nutzen des Behindertenausweises, Patientenverfügung, Schulden, Aufgaben des gesetzlichen Betreuers)
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(weiterführende) MATERIALIEN

Autorengruppe Fachdidaktik (2015): Was ist gute politische Bildung? Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht (Politik unterrichten). Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag.
Baumann, S. (2023): ‚Politik, habe ich soweit nichts zu tun‘ – Politische Partizipation von Menschen mit sog. geistiger Behinderung: Barrieren & Gelingensbedingungen, Anerkennung & Repräsentanz. In: Sonderpädagogische Förderung heute, 67 (3).
Buchberger, W.; Eigler, N.; Kühberer, Ch. (2020): Mit Concept Cartoons politisches Denken anregen: Ein methodischer Zugang zum subjektorientierten politischen Lernen (Politik unterrichten). Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag.
Dönges, C.; Hilpert, W.; Zurstrassen, B. (Hg.) (2015): Didaktik der inklusiven politischen Bildung. Schriftenreihe Bd. 1617, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
Duber, M; Rohrmann, A.; Windisch, M. (Hg.) (2015): Barrierefreie Partizipation. Entwicklungen, Herausforderungen und Lösungsansätze auf dem Weg zu einer neuen Kultur der Beteiligung. Weinheim: Beltz Juventa.
Fischer, Ch. (2020): Inklusion im Politikunterricht: Ein fallbezogener Denkanstoß (Kleine Reihe Politische Bildung). Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag.
Jöhnck, J.; Baumann, S. (Hg.) (2022):: Politische Bildung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Grundlagen und Praxisbeispiele für Förderschulen und Inklusion. Frankfurt a. M.: Wochenschau Verlag
Kaase, M. (2003): Politische Beteiligung/ Politische Partizipation. In: Andersen, U.; Wichard, W. (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland (5. Aufl.). Opladen: Leske + Budrich, S. 495-500.
Klamp-Gretschel, K. (2016): Politische Teilhabe von Frauen mit geistiger Behinderung: Bedeutung und Perspektiven der Partizipation. Leverkusen-Opladen: Budrich-Unipress.
Koopmann, F.K. (2007): Erfahrungsbezogen Politik lernen. Theoretische Merkmale und praktische Umsetzung eines politikdidaktischen Begriffs. In: Lange, D.; Reinhardt, V. (Hg.) (2007): Basiswissen Politische Bildung. Handbuch für den sozialwissenschaftlichen Unterricht. Forschungs- und Bildungsbedingungen. Band 2. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag, 85-99.
Schädler, J. (2011): Full citizenship – Anmerkungen zur Entwicklung der Bürgerrechte von Menschen mit Lernschwierigkeiten. In: Kulig, W.; Schirbort, K.; Schubert, M. (Hg.): Empowerment behinderter Menschen: Theorien, Konzepte, Best-Practice. Stuttgart: Kohlhammer-Verlag, 15-46.
Schiefer, F.;Schlummer, W.; Schütte, U. (2011): Politische Bildung für alle?! – Anbahnung von Politik- und Demokratie-Kompetenz bei Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. In: Ratz, Ch. (Hg.): Unterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Fachorientierung und Inklusion als didaktische Herausforderung. Oberhausen: Athena, 241-261.
Schiefer, F.;Schütte, U.; Schlummer, W. (2015): Förderung der Politik- und Demokratiekompetenz bei Schülern mit kognitiven Beeinträchtigungen. In Dönges, Ch.; Hilpert, W.; Zurstrassen, B. (Hg.): Didaktik der inklusiven politischen Bildung. Bonn: Bundeszentrale politische Bildung, 211-222.
Schlummer, W. (2017): Diversität und institutionelle Mitwirkung von Menschen mit geistiger Behinderung. In: Genkova, P.; Ringeisen, T. (Hg.): Handbuch Diversity Kompetenz. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 483-495.
Schlummer, W.; Schütte, U. (2006): Mitwirkung von Menschen mit geistiger Behinderung. Schule, Arbeit, Wohnen. München/Basel: Reinhardt.
Schütte, U.; Schlummer, W. (2015): Schülermitverantwortung. Förderschulen und inklusive Schulen erfolgreich gestalten. Stuttgart: Kohlhammer.