Lebensqualität

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Experteninterview

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Dr.in Monika Seifert
Berlin

Was bedeutet Lebensqualität?

Was bedeutet Lebensqualität?

„ • wenn individuelle Bedürfnisse im Alltag erfüllt werden,

  • wenn das Individuum befriedigende soziale Beziehungen erfährt,
  • wenn eine Passung zwischen den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Interessen des Individuums und seiner Umwelt besteht,
  • wenn das Individuum die sich selbst gesetzten Ziele erreicht,
  • wenn das Individuum die Anforderungen seiner Umwelt bewältigen kann,
  • wenn das Individuum Vertrauen in die eigene Fähigkeit hat, Einfluss auf seine Umwelt nehmen zu können,
  • wenn das Individuum sein Dasein als sinnvoll erlebt.“ [1]

Lebensqualität: subjektive Zufriedenheit und objektive Lebensbedingungen

Bereits an dieser Beschreibung wird deutlich, dass Lebensqualität immer auch etwas Subjektives und Individuelles ist. Lebensqualität ist ein vielseitig genutzter Begriff in unserer Alltagssprache und wird dabei oft mit Glück, Zufriedenheit oder auch Wohlbefinden verbunden. Ganz allgemein lässt sich Lebensqualität definieren als „ein umfassendes Konzept, das objektive Lebensbedingungen und die subjektive Zufriedenheit integriert – unter besonderer Berücksichtigung der persönlichen Werte und Ziele“. [2]

Subjektive Perspektive

Die Lebensqualität einer Person ist also zum einen von ihren objektiven Lebensumständen, von ihrem Lebensstandard abhängig: Unter welchen räumlichen Bedingungen lebt sie? Wie viel Zeit kann sie pro Tag gemeinsam mit anderen Personen verbringen? Welchen Aktivitäten kann sie regelmäßig nachgehen etc.?

Zum anderen geht in die Bestimmung von Lebensqualität immer auch die subjektive Perspektive einer Person mit ein [3]. Diese subjektive Wahrnehmung und Bewertung der Lebensumstände ist abhängig von den Erfahrungen einer Person, aber auch von ihren Erwartungen, Werten und Zielen und ihrer Persönlichkeit [4]. Aus diesem Grund kann es sein, dass zwei Personen ihre Lebensqualität sehr unterschiedlich einschätzen, obwohl ihre objektiven Lebensumstände sehr ähnlich sind. Beispielsweise sind regelmäßige Erholungsphasen während der Arbeit zwar grundsätzlich für die Lebensqualität aller Menschen bedeutsam. Wie wichtig aber die Einhaltung von Pausenzeiten, ihre Dauer und Gestaltung konkret für die Lebensqualität sind, kann sich von Person zu Person unterscheiden – je nach den Erfahrungen, Gewohnheiten und Bedürfnissen.

„Zufriedenheitsparadox“

In Zusammenhang mit dem Verhältnis von objektiven und subjektiven Aspekten von Lebensqualität steht auch noch ein anderes Phänomen, das in der Lebensqualitätsforschung als „Zufriedenheitsparadox“ bezeichnet wird. Dieses Phänomen beschreibt, dass eine Person mit ihrer Lebensqualität zufrieden ist, obwohl ihre Lebensumstände objektiv betrachtet schlecht sind. Ein Grund dafür kann in den Erwartungen liegen, die eine Person an ihre Lebensumstände vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Lebenserfahrungen entwickelt hat. Die subjektive Zufriedenheit ist also immer auch abhängig von den Möglichkeiten der Lebensgestaltung, die eine Person im Laufe ihres Lebens kennenlernen konnte.

Will man also die Lebensqualität einer Person einschätzen und verbessern, ist es wichtig, beide Komponenten zu berücksichtigen, die objektiven Lebensbedingungen und die subjektive Wahrnehmung und Bewertung der Lebensqualität durch die Person selbst [5]. In dem folgenden Modell, das Monika Seifert [6] in Anlehnung an Ergebnisse der Lebensqualitätsforschung [7] entworfen hat, werden die verschiedenen Bereiche, die für Lebensqualität wichtig sind, noch einmal ausdifferenziert.

Dimensionen von Lebensqualität

Nach diesem Modell sind für die allgemeine Lebensqualität einer Person drei Bereiche wesentlich: personbezogenes Wohlbefinden [8], Entwicklung und Aktivität sowie soziale und gesellschaftliche Teilhabe:

  • Personbezogenes Wohlbefinden: Dieser Bereich umfasst das körperliche, das emotionale und materielle Wohlbefinden, z.B. den Gesundheitszustand, die Ernährung und die Qualität der Pflege, in emotionaler Hinsicht auch das Stress- und Belastungserleben bzw. haltgebende Faktoren. Für das materielle Wohlbefinden sind beispielsweise die Wohnsituation und die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel bedeutsam, aber auch, ob eine Person über persönliches Eigentum verfügt.
  • Entwicklung und Aktivität: In diesem Bereich geht es um die Möglichkeit zur persönlichen Entwicklung, z. B. ob eine Person die Gelegenheit hat, Bildungsangebote zu nutzen oder auch einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen und dabei die eigenen Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Darüber hinaus spielt die Selbstbestimmung für diesen Bereich eine wichtige Rolle, also inwiefern eine Person Einfluss auf die Gestaltung ihres Lebens nehmen kann.
  • Soziale und gesellschaftliche Teilhabe: In diesen Bereich geht die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen ein, z. B. Möglichkeiten zur Kommunikation, Erfahrungen von Zugehörigkeit und Anerkennung in der Beziehung zu anderen Menschen. Darüber hinaus ist auch die soziale Inklusion relevant, also die Teilhabemöglichkeiten einer Person in den verschiedenen Lebensbereichen, z. B. als Kundin/Kunde im Supermarkt, als Nutzer_in von Freizeitangeboten des Stadtteils etc. Grundlage für die soziale und gesellschaftliche Teilhabe einer Person ist auch die Zuerkennung und Absicherung von Rechten, z. B. das Recht auf Privatsphäre oder Barrierefreiheit.

Die folgende Grafik fasst die verschiedenen Aspekte von Lebensqualität zusammen:

Modell Lebensqualität (nach Seifert 2009)

  • Lebensqualität bezieht sich sowohl auf die objektiven Lebensbedingungen als auch auf die subjektive Zufriedenheit einer Person.
  • Die gleichen objektiven Lebensumstände können zu unterschiedlichen persönlichen Einschätzungen in Bezug auf die Lebensqualität führen.
  • Die Lebensqualität kann trotz objektiv schlechter Lebensumstände subjektiv positiv bewertet werden („Zufriedenheitsparadox“).

Welche Bedeutung hat Lebensqualität für die Arbeit mit Menschen mit schwerer Behinderung?

Förderung der Lebensqualität

Aufgrund des hohen Unterstützungsbedarfs von Menschen mit schwerer Behinderung hängt ihre Lebensqualität ganz wesentlich davon ab, ob andere Personen ihre Bedürfnisse (er)kennen, ihre Äußerungen von Wohlbefinden und Unwohlsein bemerken, richtig interpretieren und darauf reagieren. Dies zeigen auch empirische Studien zur Lebensqualität von Menschen mit schwerer Behinderung [9]. Entsprechend können auch Mitarbeiter_innen an Arbeits- und Bildungsorten für Menschen mit schwerer Behinderung einen großen Beitrag zur Lebensqualität der Beschäftigten leisten.

Zwischenmenschliche Beziehung

Im Folgenden wird aus dem oben vorgestellten Lebensqualitätsmodell der Aspekt der zwischenmenschlichen Beziehungen als Baustein für soziale und gesellschaftliche Teilhabe herausgegriffen. Es wird beschrieben, welche Bedeutung die Interaktions- und Angebotsgestaltung in dieser Hinsicht für die Lebensqualität von Menschen mit schwerer Behinderung zukommen kann.

Kommunikation als Schlüssel sozialen Wohlbefindens

Grundlegend für das soziale Wohlbefinden ist die Kommunikation. Aufgrund der individuell sehr unterschiedlichen Kommunikationswege und -möglichkeiten sind Menschen mit schwerer Behinderung in hohem Maße davon abhängig, dass andere Personen ihre Kommunikationssignale bemerken und verstehen (→ Theoretische Grundlagen: Kommunikation). Darüber hinaus benötigen sie Unterstützung bei der Kommunikation und Interaktion mit anderen Personen, z. B. durch eine Positionierung, die Körperkontakt ermöglicht, oder durch Aktivitäten und Angebote, die zur Kontaktaufnahme mit anderen anregen.

Ausbau des sozialen Netzes

Der Kreis von Bezugspersonen ist bei Menschen mit schwerer Behinderung oft sehr begrenzt. Dabei überwiegen häufig Personen, die beruflich mit ihnen arbeiten. Um für Menschen mit schwerer Behinderung Gelegenheiten zu schaffen, auch private Kontakte zu anderen Personen zu pflegen, ihr soziales Netz auszubauen und vielfältigere Beziehungserfahrungen zu machen, sind sie darauf angewiesen, dass andere Personen ihnen Wege in den sozialen Raum – auch außerhalb der Einrichtung – eröffnen. So können z. B. schon durch den regelmäßigen Besuch einer Bäckerei in der Umgebung und die wiederholten Begegnungen neue soziale Kontakte angebahnt werden, die dazu beitragen, dass sich eine Person mit schwerer Behinderung als sozial eingebunden erfährt (→ Theoretische Grundlagen: Sozialraumorientierung).

Aber auch in ganz alltäglichen Situationen innerhalb einer Einrichtung kann das soziale Wohlbefinden von Menschen mit schwerer Behinderung unterstützt und damit ein Beitrag zu ihrer Lebensqualität geleistet werden, wie das folgende Beispiel zeigt:

Die Mitarbeiterin Frau Schröder geht mit Herrn Wagner nach der Arbeit in der Kunstgruppe in den Waschraum. Herr Wagner sitzt im Rollstuhl. Frau Schröder schiebt ihn nahe genug an das Waschbecken heran, sodass er den Wasserhahn auch selbstständig erreichen kann. Sie dreht den Wasserhahn auf und fordert Herrn Wagner auf, sich die Hände zu waschen. Nachdem Herr Wagner nicht reagiert, fordert sie ihn ruhig erneut auf und lässt ihm Zeit, auf die Aufforderung zu reagieren. Als Herr Wagner seine Hände unter den Wasserstrahl hält, erschrickt er zuerst leicht. Frau Schröder verändert ein wenig die Temperatur und beobachtet dabei sein Gesicht und Körper. Als sich die Körperhaltung von Herrn Wagner entspannt, kommentiert Frau Schröder dies und lässt das Wasser weiterlaufen. Nach einer Weile sagt Frau Schröder, dass Herr Wagner den Wasserhahn ausstellen kann. Herr Wagner schaut sie interessiert an und lächelt. Frau Schröder deutet mit dem Blick auf den Wasserhahn. Als Herr Wagner nicht reagiert, wiederholt sie ihre Aufforderung, betont das Wort „aus“ und deutet mit der Hand auf den Wasserhahn. Daraufhin bewegt Herr Wagner seine Hand zum Griff des Wasserhahns. Nun weiß Herr Wagner selbst, dass das Händewaschen beendet ist, und wendet sich Frau Schröder zu, die ihm ein Handtuch reicht. Herr Wagner trocknet nicht nur die Hände ab, sondern reibt sich auch kräftig mit dem Handtuch über das Gesicht, schaut Frau Schröder an und lacht. Frau Schröder kommentiert dies auch lachend und wartet, bis Herr Wagner ihr das Handtuch reicht.

Wohlbefinden im Alltag

Die Mitarbeiterin konzentriert sich in der Situation nicht nur auf die hygienischen Notwendigkeiten und pflegerischen Aspekte, sondern berücksichtigt bei der Begleitung der Aktivität auch das soziale Wohlbefinden von Herrn Wagner, indem sie die Interaktion mit ihm entsprechend gestaltet: Sie kommuniziert nicht nur durch Anweisungen, sondern versucht auch die wahrgenommenen Äußerungen und Gefühlsregungen von Herrn Wagner zu verbalisieren und in ihrem weiteren Handeln zu berücksichtigen. Herr Wagner kann das Tempo des Waschvorgangs selbst bestimmen. Seine Impulse werden aufgegriffen, sodass er sich auch in der Interaktion mit Frau Schröder als selbstwirksam erleben kann. Auch nonverbale Formen der Kontaktaufnahme von Herrn Wagner, z. B. der Blickkontakt und das Lachen am Ende der Situation, werden von Frau Schröder aufgegriffen und beantwortet. Durch diese Form der Angebotsgestaltung trägt sie dazu bei, dass Herr Wagner sich als Person wahrgenommen und wertgeschätzt fühlt und er vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Personen aufbauen kann.

Gestaltung von Angeboten fördert Lebensqualität

Wie am Beispiel der zwischenmenschlichen Beziehung und des sozialen Wohlbefindens gezeigt wurde, kann durch die Gestaltung von Angeboten an Arbeits- und Bildungsorten ein Beitrag zur Lebensqualität der Beschäftigten geleistet werden. Aber auch umgekehrt ist die Berücksichtigung der unterschiedlichen Aspekte von Lebensqualität Voraussetzung dafür, dass sich Menschen mit schwerer Behinderung auf neue Angebote einlassen können. Wenn z. B. das körperliche oder emotionale Wohlbefinden einer Person beeinträchtigt ist, weil sie durch eine ungünstige Positionierung Schmerzen empfindet oder durch einen schnellen und unangekündigten Wechsel zwischen verschiedenen Räumen Unsicherheit und Stress erlebt, können auch gut geplante Angebote ins Leere laufen.

Nonverbale Äußerungen erkennen

Gerade bei Menschen mit schwerer Behinderung ist es oft schwierig, zu erkennen und einzuschätzen, wie sie selbst ihre Lebensumstände erleben und bewerten. Dies ist nicht nur darin begründet, dass Menschen mit schwerer Behinderung oft in ihren kommunikativen Fähigkeiten beeinträchtigt sind und sie sich deshalb nicht ohne Weiteres zu ihren Lebensumständen, ihrem Wohlbefinden und ihren Bedürfnissen äußern können. Besonders nonverbale Signale, die Unwohlsein ausdrücken, können im Alltag leicht übersehen oder falsch eingeordnet werden, z. B. als Verhaltensauffälligkeit (→ Theoretische Grundlagen: Verhaltensauffälligkeiten). Insofern ist es wichtig, auch nonverbale Äußerungen von Personen im Rahmen von teilnehmenden Beobachtungen oder Videoaufzeichnungen in verschiedenen Alltagssituationen genauer zu erfassen und zu ihren Lebensumständen in Beziehung zu setzen [10]. Hierbei kann es hilfreich sein, wenn mehrere Personen bei der Deutung und Einordnung der beobachteten Signale der Person mit schwerer Behinderung einbezogen werden.

Alternative Kommunikationsmittel

Darüber hinaus sollten nach Möglichkeit auch die Personen selbst in Bezug auf ihre Perspektive auf ihre Lebensbedingungen befragt werden. Hier kann es hilfreich sein, auch alternative Kommunikationsmittel und Veranschaulichungsmedien (z. B. Fotos oder Piktogramme von verschiedenen Alltagssituationen der Person) unterstützend einzusetzen. Hierbei ist zu beachten, dass es aufgrund ihrer sozialen Abhängigkeit und der asymmetrischen Beziehung gegenüber den Mitarbeiter_innen (→ Theoretische Grundlagen: Reflektieren) dazu kommen kann, dass sie sozial erwünschte Antworten geben oder sich nicht trauen, Kritik und Wünsche zum Ausdruck zu bringen [11].

Teilnehmende Beobachtung oder stellvertretende Befragung

Wenn eine direkte Befragung auch mit zusätzlichen Hilfsmitteln grundsätzlich nicht möglich ist, sind Beobachtungen in Alltagssituationen oder stellvertretende Befragungen von Bezugspersonen wichtig [12]. Insbesondere bei der stellvertretenden Befragung kann es sein, dass die Einschätzung unbewusst durch die eigenen Vorstellungen und Wünsche der Bezugsperson überlagert wird. Deswegen ist es wichtig, unterschiedliche Personen einzubeziehen und ihre Einschätzungen miteinander abzugleichen, um sich der Sichtweise der Person mit schwerer Behinderung besser annähern zu können.

  • Die Lebensqualität von Menschen mit schwerer Behinderung hängt ganz wesentlich davon ab, ob andere Personen ihre Bedürfnisse wahrnehmen und die Gestaltung von Aktivitäten und Angeboten darauf abstimmen.
  • Umgekehrt hat auch die subjektiv erfahrene Lebensqualität Auswirkungen darauf, ob sich Menschen mit schwerer Behinderung auf Bildungs- und Arbeitsangebote einlassen können.
  • Es stellt eine besondere Herausforderung dar, die Lebensqualität von Menschen mit schwerer Behinderung einzuschätzen, insbesondere hinsichtlich ihres subjektiven Erlebens. Für eine Annäherung an die subjektive Perspektive können direkte Befragungen, stellvertretende Einschätzungen durch Bezugspersonen sowie teilnehmende Beobachtungen hilfreich sein.

Welche Chancen und Herausforderungen ergeben sich daraus?

Durch die Berücksichtigung der verschiedenen Dimensionen von Lebensqualität ergeben sich für Menschen mit schwerer Behinderung an Arbeits- und Bildungsorten vielfältige Chancen:

Bedürfnisse der Beschäftigten rücken in den Mittelpunkt

  • Das Konzept der Lebensqualität regt dazu an, die Bedürfnisse der Beschäftigten in den Mittelpunkt zu stellen, nicht die Bedingungen, die das System vorgibt. So können die Rahmenbedingungen und auch die Angebote an Arbeits- und Bildungsorten aus dem Blickwinkel der Beschäftigten und vor dem Hintergrund ihrer Lebensqualität noch einmal kritisch hinterfragt werden [13].

Verbesserung der Lebensqualität

  • Angebote an Arbeits- und Bildungsorten können aktiv zur Sicherung und Verbesserung der Lebensqualität der Beschäftigten beitragen, indem sie z. B. ihre individuellen Bedürfnisse berücksichtigen, sinnvolle Aktivitäten ermöglichen, die zur Weiterentwicklung anregen, Selbstbestimmung unterstützen und soziales Wohlbefinden und gesellschaftliche Teilhabe fördern.

Orientierungspunkte für Angebotsplanung

  • Das Konzept der Lebensqualität schafft konkrete Orientierungspunkte für die Planung und Bewertung von Angeboten an Arbeits- und Bildungsorten [14]. Die verschiedenen Bausteine, die für Lebensqualität wichtig sind, können genutzt werden, um die Lebensqualität von einzelnen Beschäftigten differenzierter einzuschätzen und Überlegungen anzustellen, wie ihre Bedürfnisse in den verschiedenen Bereichen noch besser beachtet werden können [15].

Die Berücksichtigung der Lebensqualität in der praktischen Arbeit an Arbeits- und Bildungsorten ist mit verschiedenen Herausforderungen verbunden:

Lebensqualität als individuelle Dimension

  • Lebensqualität hat immer auch eine individuelle Dimension. Es können also keine einheitlichen Kriterien für die Bestimmung von Lebensqualität festgelegt und auf alle Personen gleichermaßen angewendet werden [16]. Die Bestimmung von Lebensqualität erfordert immer den Blick auf die einzelne Person, ihre Bedürfnisse, Wünsche und Ziele. Weil sich diese im Laufe des Lebens verändern, ist es notwendig, Lebensqualität immer wieder zum Thema zu machen und das eigene Angebot fortlaufend daraufhin zu überprüfen, inwieweit es zur Lebensqualität eines Beschäftigten in seiner aktuellen Lebenssituation beiträgt.

Subjektive Zufriedenheit bei Menschen mit schwerer Behinderung

  • In die Lebensqualität einer Person gehen objektive Lebensbedingungen, aber auch die subjektive Zufriedenheit einer Person mit ein. Entsprechend müssen bei der Bestimmung von Lebensqualität auch die subjektive Wahrnehmung und Bewertung der jeweiligen Person einbezogen werden. Dies ist bei Menschen mit schwerer Behinderung eine große Herausforderung: Es kann vorkommen, dass die Bewertung der Lebensqualität durch die Person mit schwerer Behinderung aufgrund kommunikativer Schwierigkeiten oder unklarer Körpersignale nicht eindeutig erfasst werden kann. In diesem Fall wird häufig auf eine stellvertretende Einschätzung durch andere Personen, z.B. durch Angehörige oder Mitarbeiter_innen, zurückgegriffen. Dabei muss reflektiert werden, inwieweit dabei auch die Vorstellungen und Wünsche dieser Personen mit in ihre Einschätzung einfließen bzw. inwieweit tatsächlich eine Annäherung an die Perspektive der Person mit schwerer Behinderung gelingt [17].

Zufriedenheitsparadox

  • Herausforderungen ergeben sich auch in Zusammenhang mit dem oben beschriebenen Zufriedenheitsparadox: Selbst wenn Menschen mit schwerer Behinderung keinerlei Anzeichen für Unzufriedenheit zeigen oder keine Wünsche äußern, bedeutet dies nicht automatisch, dass ihre Lebensumstände positiv zu bewerten sind. Möglicherweise hatten sie bislang keine Gelegenheit, andere Lebensbedingungen oder Angebote kennenzulernen. Dies muss in der Praxis immer wieder kritisch reflektiert werden, ansonsten besteht „die Gefahr, dass eine geäußerte Zufriedenheit bei objektiv schlechten Lebensumständen den Status quo festschreibt und notwendige Veränderungen verhindert.“ [18]

Was ist notwendig, um Lebensqualität in der Arbeit mit Menschen mit schwerer Behinderung gewährleisten zu können?

  • Bei der Lebensqualität handelt es sich um ein Konzept, das vielfältige Anregungen für die Einschätzung und Weiterentwicklung der Arbeit an Arbeits- und Bildungsorten geben kann. Dabei sind folgende Aspekte zu berücksichtigen:

Reflexionsprozesse

  • Eine Orientierung am Konzept der Lebensqualität erfordert es, die eigenen Angebote und auch die Rahmenbedingungen der Einrichtung regelmäßig daraufhin zu befragen, inwieweit sie zur Lebensqualität der einzelnen Beschäftigten beitragen. Für diese Reflexionsprozesse (→ Theoretische Grundlagen: Reflektieren) können die unterschiedlichen Bausteine des vorgestellten Lebensqualitätsmodells als Orientierungspunkte genutzt werden. Darüber hinaus ist es notwendig, dass sowohl die Mitarbeiter_innen als auch die Leitung der Einrichtung grundsätzlich gegenüber Veränderungen offen sind.

Gezielte Beobachtung der Beschäftigten

  • Bei der Einschätzung der Lebensqualität sollten sowohl die objektiven Bedingungen als auch die subjektive Zufriedenheit der Beschäftigten berücksichtigt werden. Zur Erfassung der subjektiven Perspektive sollten gezielte Beobachtungen in verschiedenen Alltagssituationen, eine stellvertretende Befragung verschiedener Bezugspersonen und ggf. auch eine direkte Befragung der Beschäftigten mit Hilfe Unterstützter Kommunikation (→ Theoretische Grundlagen: Kommunikation) genutzt werden. Hilfreich ist es bei allen Zugängen, die Einschätzung unterschiedlicher Personen miteinander abzugleichen.

Rahmenbedingungen

  • Damit auch in der alltäglichen Arbeit eine Orientierung an der Lebensqualität der Beschäftigten möglich wird, sind Rahmenbedingungen notwendig, die auch den Mitarbeiter_innen Freiräume für ihre eigene Arbeit eröffnen. „Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen benötigen […] selbst Wahl-, Entscheidungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten, um flexibler und bedürfnisorientierter arbeiten zu können.“ [19]

Quellen

[1] Seifert et al. 2001, S. 93 f. [2] Seifert 2009 [3] vgl. Beck 2016, S. 156 [4] vgl. Felce 1997, S. 127 [5] vgl. Beck 1998b, S. 367; Schäfers 2008, S. 58 [6] vgl. Seifert 2012 [7] vgl. Schalock et al. 2002, S. 458 [8] Monika Seifert (2012) bezeichnet diese Dimension als „subjektives Wohlbefinden“. Um Verwechslungen mit der subjektiven Zufriedenheit (im Unterschied zu den objektiven Lebensbedingungen) bei der Bestimmung von Lebensqualität zu vermeiden, wird hier der Begriff „personbezogenes Wohlbefinden“ genutzt. [9] vgl. Beck 1998a; Seifert 1997; 2006; Seifert et al. 2001 [10] vgl. Seifert 2009 [11] vgl. Oberholzer 2013, S. 172 [12] vgl. Oberholzer 2013, S. 173; Seifert 2009 [13] vgl. Beck 1998b, S. 349 [14] vgl. Beck 2006, S. 378 [15] vgl. Beck 1998b, S. 349 [16] vgl. Beck 2006, S. 378 [17] vgl. Oberholzer 2013, S. 173 [18] Seifert et al. 2001, S. 90 [19] Beck 1998b, S. 378

Literatur

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Beck, I. (1998b): Das Konzept der Lebensqualität: eine Perspektive für Theorie und Praxis der Hilfen für Menschen mit einer geistigen Behinderung. In: Jakobs, H.; König, A. & Theunissen, G. (Hg.): Lebensräume – Lebensperspektiven. Ausgewählte Beiträge zur Situation Erwachsener mit geistiger Behinderung. Butzbach-Griedel: Afra Verlag, S. 348–388.

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Beck, I. (2016): Normalisierung, Lebensqualität. In: Dederich, M.; Beck, I.; Bleidick, U. & Antor, G. (Hg.): Handlexikon der Behindertenpädagogik. Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis, S. 154–159.

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Oberholzer, D. (2013): Zielperspektive Lebensqualität. Menschen mit Behinderungen unterstützen und begleiten. Bremen: Europäischer Hochschulverlag.

Schäfers, M. (2008): Lebensqualität aus Nutzersicht. Wie Menschen mit geistiger Behinderung ihre Lebenssituation beurteilen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

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Seifert, M. (1997): Lebensqualität und Wohnen bei schwerer geistiger Behinderung. Theorie und Praxis. Reutlingen: Diakonie-Verlag.

Seifert, M. (2009): Lebensqualität von Menschen mit schweren Behinderungen. Forschungsmethodischer Zugang und Forschungsergebnisse. Zeitschrift für Inklusion, 1(2). [Zugriff am 04.01.2023]

Seifert, M. (2012): Lebensqualität als Orientierungsrahmen für die Gestaltung des Wohnens von Menschen mit schweren Behinderungen. In: Maier-Michalitsch, N. & Grunick, G. (Hg.): Wohnen: Erwachsen werden und die Zukunft gestalten mit schwerer Behinderung. Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben, S. 108–121.

Seifert, M.; Fornefeld, B. & Koenig, P. (2001): Zielperspektive Lebensqualität. Eine Studie zur Lebenssituation von Menschen mit schwerer Behinderung im Heim. Bielefeld: Bethel-Verlag.

IMPULSFRAGEN & REFLEXIONSÜBUNGEN

  • Was wissen Sie über Besonderheiten der Wahrnehmung und Bewegung der Beschäftigten?
  • Welche Möglichkeiten haben die Beschäftigten unterschiedliche Positionen einzunehmen?
  • Wie werden Bewegungen und Bewegungsmuster der Beschäftigten aufgegriffen und Lust auf neue Bewegungen bei den Beschäftigten geweckt?
  • Inwiefern sind die Räume so gestaltet, dass die Beschäftigten selbstständig Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen machen können?
  • Welche Institutionen in der Umgebung sind barrierearm und können mit den Beschäftigten besucht werden? (z. B: Supermärkte, Museen, …)

Wählen Sie eine_n Beschäftigten aus Ihrer Gruppe aus und überlegen Sie gemeinsam:

Was bedeutet für diese Person eine gute Lebensqualität. Nutzen Sie dafür die verschiedenen Bausteine des Lebensqualitätsmodells nach Felce & Perry (1997).

Woran lässt sich subjektive Zufriedenheit dieses Beschäftigten feststellen?

Gleichen Sie dazu auch Ihre unterschiedlichen Einschätzungen und Erfahrungen ab.


Felce , D.; Perry , J. (1997): Quality of life: the scope of the term and its breadth of measurement. In: R. I. Brown (Hrsg.): Quality of life for people with disabilities. Models, research and practice. 2. Aufl. Cheltenham, 56-71.

Schauen Sie sich gemeinsam das Konzept Ihrer Einrichtung an und überlegen Sie:

An welchen Stellen spielen die verschiedenen Bausteine von Lebensqualität eine Rolle?

Welche Möglichkeiten sehen Sie, diese noch stärker zu berücksichtigen?

Icon für Materialien

(weiterführende) MATERIALIEN

Beck, I.; Greving, H. (2012): Normalisierung, Integration, Lebensqualität. In: Beck, I.; Greving, H. (Hg.): Lebenslage und Lebensbewältigung. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer, S. 179-197.
Blaudszun-Lahm, A.; Weber, H.; Eierdanz, F. (2021): ELQue. Ein neues Instrument zur Erhebung der Lebensqualität bei Menschen mit komplexer Behinderung in Wohneinrichtungen. In: Teilhabe 60 (4), S. 66-171.
Brown, R. I. (1997): Quality of life – the development of an idea. In: Brown, R. I. (Hg.): Quality of life for people with disabilities. Models. Research and Practice. Cheltenham: Thornes Publishers, S. 1-11.
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Felce, D.; Perry, J. (1997): Quality of life: the scope of the term and its breadth of measurement. In: Brown, R. I. (Hg.): Quality of life for people with disabilities. Models, research and practice. 2. Aufl. Cheltenham, S. 56-71.
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Stalder, R.; Früh, M. (2012): sensiQoL: In vier Schritten zu mehr Lebensqualität. In: Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik 18 (3), S. 34-41.
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