Wahrnehmung und Bewegung
Was sind Wahrnehmung und Bewegung?
Bewegung ist ein zentraler Bestandteil des menschlichen Lebens. Sie dient sowohl der Fortbewegung als auch als ‚Alltagswerkzeug‘, beispielsweise beim Greifen. Bewegungen können auch unwillkürlich in Form von Reflexen geschehen [1]. Bewegung ist dabei Ausdruck von Leben und Grundlage für Orientierung, Lernen und Handeln [2]. Der Mensch ist immer in irgendeiner Form in Bewegung: Um zu sprechen, werden Lippen und Zunge bewegt. Augen, Atem, Herz und Darm sind fortlaufend in Bewegung und auch die Körperhaltung wird durch Bewegung beeinflusst. Mit Hilfe von Bewegungen reagiert man auf die Umwelt, wirkt auf sie ein, verändert und gestaltet sie und tritt mit anderen Menschen in Kontakt.
Grobmotorik und Feinmotorik
Man unterscheidet zwischen Grobmotorik und Feinmotorik: Mit Grobmotorik werden Aktivitäten bezeichnet, die sich auf die Fortbewegungsfähigkeit des Körpers beziehen, also z. B. Laufen, Kriechen, Hüpfen. Feinmotorik meint primär die Bewegung der Hände und Finger, beispielsweise beim Halten von Gegenständen oder beim Schreiben.
Aufgabe und Funktion der Muskeln
Wenceslaus Hollar: Männlicher Torso 1645 ©
Um zielgerichtete Bewegungen ausführen zu können, arbeiten ca. 650 Muskeln und die motorischen Systeme in Gehirn und Rückenmark zusammen. Der Muskeltonus, die Koordination einzelner Muskelgruppen und die sensorische Rückmeldung sind besonders wichtig, damit Bewegungen zielgerichtet ausgeführt werden können:
Muskeltonus: Der Muskeltonus bezeichnet die Grundspannung der Muskulatur. Diese ermöglicht es erst, sich gegen die Schwerkraft aufzurichten. Die Muskelspannung verändert sich je nach Aktivitätslevel. So ist sie im Schlaf wesentlich geringer als im wachen Zustand. Auch psychische Einflussfaktoren spielen dabei eine Rolle, z.B. Traurigkeit oder Wut. Darüber hinaus zeigen sich auch Müdigkeit und Erschöpfung im Muskeltonus [3]. Die Regulation der Muskelspannung erfolgt über das Nervensystem. Kommt es zur Schädigung des Gehirns, wird häufig auch der Muskeltonus anders reguliert. Ein erhöhter (spastischer), ein erniedrigter (hypotoner) oder ein stark wechselnder Muskeltonus sind die Folge [4].
Beuger und Strecker
Koordination: Jede Bewegung wird durch mehrere Muskelgruppen ausgeführt, die sich dehnen oder zusammenziehen. Die einzelnen Muskelgruppen agieren dabei als Gegenspieler: Beugt sich die eine Muskelgruppe, streckt sich die gegenüberliegende Muskelgruppe. Am Beispiel der Beugung des Oberarms wird dieses Zusammenspiel deutlich: Die Beugemuskulatur muss sich zusammenziehen, wird dadurch kürzer und zieht dadurch den Unterarm und die Hand nach oben. Der Gegenspieler, die Streckmuskulatur, wird entsprechend länger und leistet gleichzeitig Widerstand, damit die Bewegung koordiniert ausgeführt wird. Eine Bewegung kann nur dann zielgerichtet erfolgen, wenn die Muskelgruppen koordiniert werden, die Aktivität der beteiligten Muskelgruppen also gut abgestimmt ist. Bei einem dauerhaft veränderten Muskeltonus ist die Koordination der Muskelgruppen erschwert [5].
Beugung und Streckung
Sensorische Rückmeldung
Sensorische Rückmeldung: Jede Bewegung wird überwacht und kann so angepasst werden, wenn es erforderlich ist. Dies geschieht im Gehirn durch die Auswertung der Reize, die mit der Bewegung verknüpft sind und wahrgenommen werden [6]. Die Wahrnehmung hat also einen großen Anteil daran, dass Bewegungen koordiniert ausgeführt werden können.
Reizaufnahme durch äußere Sinnesorgane
Wahrnehmung bezeichnet die Aufnahme und Verarbeitung von Reizen. Diese werden sowohl aus der Umwelt als auch aus dem Körper selbst aufgenommen.
Die Wahrnehmungsbereiche Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen sind mit sichtbaren Sinnesorganen, nämlich Augen, Ohren, Nase, Zunge und Haut, verknüpft [7].
Reizaufnahme im Körper
Die im Körper aufgenommenen Reize beziehen sich
- auf das Gleichgewicht (vestibuläre Wahrnehmung/Gleichgewichtssinn) [8],
- auf die Wahrnehmung der Stellung einzelner Gelenke (Stellungssinn),
- auf die Wahrnehmung der Empfindungen im Körper, z. B. von Muskeln, Organen, Bewegungen, Druck auf der Haut und Schmerzen (somatische Wahrnehmung) [9].
- Die Wahrnehmung von Vibrationen, die auf den Körper wirken, stellt einen eigenen Wahrnehmungsbereich (vibratorische Wahrnehmung) dar.
Wahrnehmungsbereiche
Informationen, die die vestibuläre, die somatische und die vibratorische Wahrnehmung betreffen, werden bereits im Mutterleib aufgenommen und verarbeitet. Durch die Bewegungen der Mutter, den Kontakt mit ihrem Körper, die Geräusche ihrer Organe und die Vibrationen ihrer Stimme beim Sprechen wird die Wahrnehmung des Kindes schon vor der Geburt stimuliert.
Zusammenfassend lassen sich die verschiedenen Wahrnehmungsbereiche wie folgt darstellen:
Wahrnehmungsbereiche
Wahrnehmung ist subjektiv
Die über die verschiedenen Sinne aufgenommenen Informationen sind vielfältig und stehen zunächst nebeneinander. Sie werden im Gehirn zu einem Gesamtbild zusammengefügt. Dabei werden auch relevante Reize von weniger relevanten Reizen unterschieden. Der so entstandene Gesamteindruck ist dabei immer subjektiv, weil bereits erworbene Erfahrungen und Kenntnisse über die Welt bei diesem Prozess eine Rolle spielen [10]. So können Menschen Situationen sehr unterschiedlich wahrnehmen, wie das folgende Beispiel zeigt:
Frühstück an einem Arbeits- und Bildungsort:
Der Frühstückstisch, um den 8 Personen sitzen, ist gedeckt. Es riecht nach frischem Brot, Kaffee und Kakao. Auf dem Tisch stehen viele Gegenstände und Nahrungsmittel unterschiedlicher Farbe und Größe. Der Wasserhahn tropft, Geschirr klappert und die Gespräche am Tisch füllen den Raum. Besonders deutlich hört man das Zähneknirschen von Frau Müller, aber auch das durchgängige Klopfen von Herrn Zimmermann an seinem Rollstuhl. Im Hintergrund läuft leise ein Radio. Herr Meier greift auf dem Tisch nach einem Brötchen und schlürft genüsslich seinen Kaffee.
Die Menschen, die am Tisch sitzen, erfahren ihre Umwelt, indem sie riechen, sehen, hören und schmecken oder etwas berühren und dabei z. B. die Temperatur des Kaffees oder die Konsistenz des Brötchens spüren. Bei dem einen hinterlässt der Geruch des frischen Brötchens einen intensiven Eindruck. Für den anderen ist der Geruch des frisch gebrühten Kaffees sehr viel eindrücklicher. Einige werden vielleicht das Radio im Hintergrund oder das Klopfen von Herrn Zimmermann sogar ganz überhören.
Für zielgerichtete Bewegungen sind Informationen aus nahezu allen Wahrnehmungsbereichen (ausgenommen sind Hören, Riechen und Schmecken) notwendig. Gleichzeitig werden durch jede Bewegung neue Wahrnehmungsreize erzeugt [11]. Es kann also gesagt werden:
Die Wahrnehmung verändert sich unter der Bewegung, und Bewegung ermöglicht die Wahrnehmung [12].
Drehtürprinzip
Wahrnehmung und Bewegung wirken also zusammen. Die durch die Bewegung wahrgenommenen Reize bilden wiederum die Grundlage für weitere Bewegungen oder andere Reaktionen [13]. Das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Bewegung ist dabei nicht als ein Vorher und Nachher zu betrachten, sondern beide Prozesse laufen gleichzeitig ab, gehen ineinander über und beeinflussen sich gegenseitig [14]. Das Zusammenspiel zwischen Wahrnehmung und Bewegung wird deswegen auch als ‚Drehtürprinzip‘ bezeichnet.
Wechselwirkung
Ineinandergreifen von Bewegung und Wahrnehmung
Wie Wahrnehmung und Bewegung ineinandergreifen, wird deutlich, wenn man die Frühstückssituation noch einmal genauer betrachtet: Dass Herr Meier während des Frühstücks Kaffee trinkt, fällt zunächst kaum auf, weil es sich um eine ganz alltägliche Aktivität handelt. Betrachtet man aber die unterschiedlichen Prozesse von Wahrnehmung und Bewegung, die für diese Aktivität notwendig sind, zeigt sich, wie komplex diese unscheinbare Handlung eigentlich ist:
Um nach der Tasse greifen zu können, müssen unterschiedliche Informationen gesammelt werden: Mit Hilfe der Augen wird erkannt, wie weit entfernt die Tasse steht. Durch den Stellungssinn wird ermittelt, ob der Arm nur ausgestreckt wird oder sich der Oberkörper vielleicht noch ein Stück Richtung Tisch neigen muss, um die Tasse erreichen zu können. Sobald Herr Meier mit der Hand den Becher erreicht hat, werden Informationen über den Tastsinn genutzt, um die Bewegung anzupassen. So wird beispielsweise wahrgenommen, ob sich die Tasse kalt oder warm anfühlt. Dies hat später Auswirkungen darauf, ob er den Kaffee nur schlürft oder gleich einen großen Schluck trinkt. Während des Umschließens des Henkels der Tasse mit den Fingern wird außerdem deutlich, ob der Druck der Finger erhöht werden muss, damit die Tasse beim Anheben nicht wieder herunterfällt. Herr Meier führt dann die Tasse zum Mund, um zu trinken. Hierbei ist auch der Stellungssinn beteiligt, der Aufschluss darüber gibt, wie hoch die Tasse gehalten werden muss, um den Mund verlässlich zu treffen. Der Gleichgewichtssinn ermöglicht die gesamte Zeit über die Aufrichtung des Körpers gegen die Schwerkraft.
- Für die Ausführung von Bewegungen sind Muskeltonus, Koordination und sensorische Rückmeldung entscheidend.
- Wahrnehmung bezeichnet die Aufnahme und Verarbeitung von Reizen.
- Reize werden sowohl aus der Umwelt als auch aus dem Körper selbst aufgenommen.
- Vestibuläre, vibratorische und somatische Wahrnehmung stellen Grundformen der Wahrnehmungsfähigkeit dar.
- Wahrnehmung und Bewegung stehen in engem Zusammenhang, sie beeinflussen sich wechselseitig.
Zusammenwirken von Wahrnehmung und Bewegung in der Entwicklung
Im Verlauf der Entwicklung wird das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Bewegung immer weiter ausdifferenziert. So ist beispielsweise bei Säuglingen der Wahrnehmungsbereich zunächst auf diejenigen Objekte beschränkt, die er greifen kann. Diesen sogenannten Nahraum erkundet das Kind mit den Händen und dem Mund [15]. Mit dem Erlernen des Krabbelns und Laufens kann das Kind nun auch Dinge erkunden, die weiter weg sind. Dadurch erweitern sich auch die Wahrnehmungsmöglichkeiten. Die Erfahrungen, die über die Wahrnehmung gemacht werden, haben wiederum Einfluss auf die Entwicklung der Bewegungsfähigkeiten. Durch das Zusammenwirken von Wahrnehmung und Bewegung wirken sich auch Beeinträchtigungen wechselseitig aus: Menschen, die sich nur eingeschränkt bewegen können, können weniger Wahrnehmungserfahrungen sammeln, weil ihr Aktionsradius begrenzt ist und sie weniger Möglichkeiten haben, ihre Umwelt zu ‚begreifen‘. Sind einzelne oder mehrere Wahrnehmungsbereiche beeinträchtigt, schränkt dies wiederum Bewegungsmöglichkeiten ein, weil Bewegungen z. B. schlechter koordiniert werden können [16].
Das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Bewegung ist damit für die Umwelterfahrung und das Handeln des Menschen grundlegend und damit auch für die Arbeit mit Menschen mit schwerer Behinderung wichtig.
Welche Bedeutung haben Wahrnehmung und Bewegung in der Arbeit mit Menschen mit schwerer Behinderung?
Erschwernisse der Bewegungskoordination
Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung haben fast immer Schwierigkeiten, sich selbst aktiv und koordiniert zu bewegen:
- Der Muskeltonus ist häufig entweder stark erhöht (Hypertonie) oder deutlich geringer (Hypotonie).
- Die Bewegungskoordination ist erschwert, da mit dem veränderten Muskeltonus auch die Aktivitäten von Beuger und Strecker schlechter aufeinander abgestimmt werden können. Bewegungen erfolgen dann häufig langsam oder überschießend, z. T. auch weniger zielgerichtet [17].
- Die sensorische Rückmeldung kann aufgrund der veränderten Muskelspannung nur unzureichend zu einer Anpassung der Bewegung beitragen. Gleichzeitig kann auch die Wahrnehmung selbst erschwert sein.
- Menschen mit schwerer Behinderung haben daher häufig Schwierigkeiten, selbst ihre Position zu wechseln, sich selbstständig fortzubewegen oder Dinge, die ihnen wichtig sind, zu greifen.
- Darüber hinaus können Schädigungen der Sinnesorgane die Orientierung in der Umwelt zusätzlich behindern.
Der eigene Körper als primärer Wahrnehmungsraum
Der eigene Körper ist für Menschen mit schwerer Behinderung zunächst der zentrale Bereich ihrer Wahrnehmung [18]. Die Wahrnehmung von Reizen aus der Umwelt, die weiter entfernt sind, ist häufig auch aufgrund einer erhöhten Reizschwelle erschwert [19]. So können Menschen mit schwerer Behinderung häufig Reize, die direkt auf ihren Körper wirken, besser wahrnehmen als andere, weiter entfernte Reize. Diese Reize auf den Körper können von außen, durch andere, erzeugt werden, aber auch durch eigene Bewegungen entstehen.
Unterstützung in der Bewegungsausführung und bei der Aneignung der Umwelt
Mitarbeiter_innen an Arbeits- und Bildungsorten können die vorhandenen Fähigkeiten der Beschäftigten berücksichtigen und aufgreifen. Wenn beispielsweise die Bewegungsfähigkeit durch eine Spastik oder Lähmung beeinträchtigt ist, können Menschen mit schwerer Behinderung z. B. nicht ohne Hilfe ihre Position wechseln, sich selbständig fortbewegen oder Dinge, die sie interessieren, greifen. Hierdurch wird auch die Möglichkeit, sich Wissen über die Welt anzueignen, begrenzt. Um etwas über die Umwelt erfahren zu können, ist es notwendig, Gegenstände zu berühren, festzuhalten, zu bewegen, anzuschauen oder zu betasten. Wenn Menschen mit schwerer Behinderung aufgrund motorischer oder sensorischer Einschränkungen diese Aktivitäten nicht eigenständig ausführen können, erfahren sie nur sehr eingeschränkt etwas über die Welt. Dies kann sich beispielsweise auch in stereotypen Bewegungen zeigen. Die Personen nutzen hierbei Wahrnehmungs- und Bewegungsmöglichkeiten, die sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten als Zugang zur Welt gefunden haben. Solche Bewegungen oder Aktivitäten sind deshalb für diese Personen selbst auch besonders wichtig und geben Sicherheit, weil sie vertraut sind.
Vorhandene Wahrnehmungs- und Bewegungsmöglichkeiten unterstützen
Stereotypien sind ein Anzeichen dafür, dass diese Personen bislang noch wenig Gelegenheit hatten, andere Wahrnehmungs- und Bewegungsmöglichkeiten kennenzulernen und neue Vorlieben zu entwickeln. Deshalb ist es besonders wichtig, gerade Menschen mit schwerer Behinderung gezielt dabei zu unterstützen, ihre vorhandenen und selbst gefundenen Wahrnehmungs- und Bewegungsmöglichkeiten zu erweitern. Gelegenheiten dazu ergeben sich sowohl beim alltäglichen Lagerungswechsel als auch bei gezielten Wahrnehmungs- und Bewegungsangeboten. Dabei geht es zum einen um die Vermittlung von vielfältigen Wahrnehmungseindrücken, zum anderen um das Wecken von Freude an Bewegung, indem eine bewegungsförderliche Umgebung geschaffen wird. Konkrete Beispiele finden Sie im → Orientierungsplan: Wahrnehmung & Bewegung.
Der Alltag sollte grundsätzlich wahrnehmungs- und bewegungsförderlich gestaltet werden. Immer dann, wenn aufgrund einer Bewegungsstörung über eigene Bewegungsaktivität nicht oder nur erschwert Wahrnehmungsreize aufgenommen werden können, sollten diese von außen unterstützt werden. Verharrt ein Mensch lange Zeit in nur einer Position und hat selbst nicht die Möglichkeit, die eigene Position selbstständig zu verändern, kommt es häufig zu Schmerzen. Zudem wird es immer schwerer, den eigenen Körper wahrzunehmen, da die Wahrnehmungsimpulse, die sonst über Bewegungen eingeholt werden, fehlen [20]. Bewegungen, die stellvertretend oder gemeinsam mit einem Menschen ausgeführt werden, können hier die eigenen Bewegungseinschränkungen ein Stück weit ausgleichen [21]. Mit jeder Bewegung können auch neue Wahrnehmungserfahrungen gemacht werden [22]. Durch den regelmäßigen Wechsel von Positionen wird außerdem die Möglichkeit geschaffen, unangenehme Bewegungs- und Haltungsmuster zu vermeiden und zu einer entspannteren Körperhaltung zu gelangen. Dies stellt ebenfalls eine wichtige Grundlage dafür dar, sich überhaupt auf Angebote von außen, z. B. Bildungs- oder Arbeitsangebote, einlassen zu können [23].
Welche Chancen und Herausforderungen ergeben sich daraus?
Wahrnehmung und Bewegung ermöglichen
- Der Alltag und die Gestaltung von Angeboten in den Bereichen Arbeit und Kultur an Arbeits- und Bildungsorten sind ohne die Berücksichtigung von Wahrnehmung und Bewegung nicht möglich.
- Eine wichtige Aufgabe von Mitarbeiter_innen an Arbeits- und Bildungsorten ist es daher, den Beschäftigten Wahrnehmung und Bewegung auf vielfältige Weise zu ermöglichen. Insbesondere bei erwachsenen Menschen mit schwerer Behinderung ist es dabei wichtig, auch vorhandene Wahrnehmungs- und Bewegungsmöglichkeiten möglichst lange zu erhalten.
Aus den bisherigen Überlegungen zum Zusammenspiel von Wahrnehmung und Bewegung und ihrer Bedeutung für die Welterfahrung des Menschen lassen sich vielfältige Chancen für die Arbeit mit Menschen mit schwerer Behinderung ableiten:
Durch Positionsänderungen Schmerzen vermeiden
- Durch veränderten Muskeltonus und Bewegungsmangel können Schmerzen entstehen. Durch Positionswechsel und vielfältige Bewegungserfahrungen können Mitarbeiter_innen die Beschäftigten darin unterstützen, eine entspanntere Körperhaltung einzunehmen, und wesentlich zu ihrem Wohlbefinden beitragen. Sie schaffen damit auch eine wichtige Grundlage, dass sich die Beschäftigten auf Bildungs- und Arbeitsangebote einlassen können.
Wahrnehmungs- und Bewegungsangebote ergänzen sich wechselseitig
- Eröffnen Mitarbeiter_innen Bewegungsangebote für die Beschäftigten, werden diese automatisch auch zu Wahrnehmungsangeboten. Gezielte Wahrnehmungsangebote können außerdem neue Bewegungsanlässe bieten. Beispielsweise können Arbeits- und Kulturangebote in unterschiedlichen Positionen außerhalb des Rollstuhls (z. B. stehend im Stehständer) ausgeführt werden.
Alltagsituationen nutzen
- Aber auch wiederkehrende Alltagssituationen bieten vielfältige Möglichkeiten, um Wahrnehmungs- und Bewegungsangebote zu integrieren. Z. B. können in Pflegesituationen durch das Verwenden unterschiedlicher Materialien, Seifen und Düfte gezielt Wahrnehmungsangebote eröffnet werden (Beispiele → Orientierungsplan: Wahrnehmung & Bewegung).
An Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen anknüpfen
- Über solche neuen Bewegungs- und Wahrnehmungsanregungen hinaus sollten aber auch bereits vorhandene Bewegungen und Wahrnehmungsvorlieben der Beschäftigten aufgegriffen werden, um daran anknüpfend Angebote zu machen. Selbstgefundene (stereotype) Bewegungsmuster und Wahrnehmungsaktivitäten können so schrittweise erweitert werden.
Neben diesen Chancen lassen sich auch einige Herausforderungen identifizieren:
Schmerzen vermeiden
- Erwachsene Menschen mit schwerer Behinderung haben häufig bereits Deformationen der Knochen und Gelenke, wodurch es schwieriger sein kann, angenehme Sitz- bzw. Liegepositionen zu finden und Positionswechsel schmerzarm durchzuführen.
Unterschiedliche Reizschwellen berücksichtigen
- Die Reizschwelle kann bei Menschen mit schwerer Behinderung sehr unterschiedlich ausfallen: Manche Personen sind auf sehr starke Reize aus der Umwelt angewiesen, andere sind bereits mit schwachen Reizen von außen überfordert. Darüber hinaus kann auch die Reizschwelle je nach Wahrnehmungsbereich noch einmal unterschiedlich ausfallen. Diese individuell unterschiedlichen Voraussetzungen erfordern eine genaue Beobachtung, um Angebote sensibel an die Bedürfnisse der jeweiligen Person anpassen zu können.
Balance zwischen Bekanntem und Neuem
- Insbesondere erwachsene Menschen mit schwerer Behinderung bekommen häufig wiederkehrende und ähnliche Angebote im Bereich Wahrnehmung und Bewegung. Hier besteht die Herausforderung darin, einen Mittelweg zwischen bereits bekannten und neuen Angeboten zu finden. Ziel ist es dabei, den Beschäftigten einerseits zu ermöglichen, Angebote wiederzuerkennen und an bereits gemachte Erfahrungen anzuknüpfen, andererseits aber auch Langeweile zu vermeiden und Interesse für Neues zu wecken.
Was ist notwendig, um das Thema ‚Wahrnehmung und Bewegung‘ in der Arbeit mit Menschen mit schwerer Behinderung berücksichtigen zu können?
Nicht nur die Mitarbeiter_innen können einen großen Beitrag dazu leisten, den Alltag an Arbeits- und Bildungsorten für Menschen mit schwerer Behinderung bewegungs- und wahrnehmungsfreundlich zu gestalten. Auch die räumlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen sind hierfür wichtig:
Kooperation mit anderen Professionen
- In Zusammenarbeit mit Physiotherapeut_innen, Ergotherapeut_innen, Rehatechniker_innen sowie Expert_innen von Hilfsmittelfirmen sollten Überlegungen angestellt werden, wie für einzelne Beschäftigte unterschiedliche Positionen gefunden werden können, die ihren individuellen Voraussetzungen entsprechen und ihnen vielfältige, möglichst eigenaktive Bewegungsmöglichkeiten eröffnen.
Positionierungshilfen nutzen
- Dies setzt auch voraus, dass in Einrichtungen unterschiedliche Hilfsmittel zur Positionierung vorhanden sind, die möglichst vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten schaffen. Dabei sollten sowohl weiche als auch feste Materialien verfügbar sein, um diese bei der Positionierung optimal kombinieren zu können. Hierzu zählen unter anderem Sitzsäcke, Lagerungsrollen, Hörnchen, Lagerungskissen, gefüllt mit Schaumstoff oder Styroporkügelchen.
Wahrnehmungsfreundliche Räume
- Die Umgebung sollte möglichst so gestaltet sein, dass sie ‚dosierte‘ Wahrnehmungsangebote schafft, die aber trotzdem anregend sind. Die Räume sollten also möglichst nicht mit Materialien überfrachtet sein, sondern bewusst gestaltet und in regelmäßigen Abständen auch immer wieder gezielt umgestaltet werden, um immer wieder Interesse für Neues zu wecken.
Barrierearme Räume
- Die Raumgestaltung sollte darüber hinaus möglichst barrierearm sein, also eigene Erkundungen zulassen, ohne dass die Gefahr besteht, über etwas zu stolpern oder mit dem Rollstuhl oder Rollator auf Hindernisse zu stoßen. Darüber hinaus sollten auch ausgewählte Materialien, die zur Wahrnehmung oder Bewegung anregen, für die Beschäftigten frei zugänglich sein, um eine eigenaktive Beschäftigung damit zu ermöglichen.
Bewegungs- und Wahrnehmungsangebote in den Alltag integrieren
- Bewegungs- und Wahrnehmungsangebote sollten zum einen gezielt gestaltet werden. Zum anderen lassen sich aber im Alltag auch immer wieder Gelegenheiten nutzen, um neue Bewegungs- und Wahrnehmungsangebote in wiederkehrende Alltagstätigkeiten zu integrieren, z. B. in Essens- oder Pflegesituationen, bei Raumwechseln etc. Gerade bei der Gestaltung von Wahrnehmungsangeboten sollte dabei beachtet werden, dass es nicht um die Zuführung isolierter Reize geht, sondern die Angebote an die Interessen der Beschäftigten anknüpfen und subjektiv sinnstiftende Zugänge zur Welt ermöglichen sollten.
Quellen
[1] vgl. Behrens & Fischer 2006, S. 42 [2] vgl. Stemme et al. 2012, S. 11–14 [3] vgl. ebd. S. 29 f. [4] vgl. ebd. S. 33 [5] vgl. ebd. S. 33–35 [6] vgl. ebd. S. 36 [7] vgl. Zimmer 1998, S. 56 [8] vgl. Fröhlich 2015, 54 f. [9] vgl. ebd. [10] vgl. Zimmer 1998, S. 45 f. [11] vgl. Dederich et al. 2016, S. 270 [12] vgl. ebd. [13] vgl. Bernasconi & Böing 2015, 140 f. [14] vgl. Leyendecker 2005, S. 72 [15] vgl. ebd. S. 73 [16] vgl. ebd. [17] vgl. Stemme et al. 2012, S. 31–33 [18] vgl. Behrens & Fischer 2014, S. 259 [19] vgl. Fröhlich 2015, S. 160 [20] vgl. ebd. S. 31 [21] vgl. ebd. 102 f. [22] vgl. Behrens & Fischer 2014, S. 259 [23] vgl. Fröhlich 2014, S. 233
Literatur
Literatur
Bernasconi, T. & Böing, U. (2015): Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung. 1. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer (Kompendium Behindertenpädagogik).
Dederich, M.; Beck, I.; Antor, G. & Bleidick, U. (Hg.) (2016): Handlexikon der Behindertenpädagogik. Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis. 2., überarb. und erw. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer (Heil- und Sonderpädagogik).
Fröhlich, A. (2015): Basale Stimulation – ein Konzept für die Arbeit mit schwer beeinträchtigten Menschen. Völlig überarbeitete Neuauflage. Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben.
Leyendecker, C. (2005): Motorische Behinderungen. Grundlagen, Zusammenhänge und Förderungsmöglichkeiten. Stuttgart: Kohlhammer.
Praschak, W. (2011): Basale Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung: Kooperative Pädagogik und Dialog. In: Dederich, M.; Jantzen, W. & Walthes, R. (Hg.): Sinne, Körper und Bewegung. Stuttgart: Kohlhammer (Behinderung, Bildung, Partizipation, Bd. 9), S. 314–317.
Stemme, G.; Eickstedt, D. von; Laage-Gaupp, A. (2012): Die frühkindliche Bewegungsentwicklung. Vielfalt und Besonderheiten. Aktualisierte Neuauflage. Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben.
Zimmer, R. (1998): Handbuch der Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer ganzheitlichen Erziehung. 6. Aufl. Freiburg i. Br.: Herder.
siehe auch
Kognition & Handlungskompetenz | Kommunikation | im Orientierungsplan Wahrnehmung & Bewegung | Kommunikation
Impulsfragen & Reflexionsübungen
Impulsfragen
- Was wissen Sie über Besonderheiten der Wahrnehmung und Bewegung der Beschäftigten?
- Welche Möglichkeiten haben die Beschäftigten unterschiedliche Positionen einzunehmen?
- Wie werden Bewegungen und Bewegungsmuster der Beschäftigten aufgegriffen und Lust auf neue Bewegungen bei den Beschäftigten geweckt?
- Inwiefern sind die Räume so gestaltet, dass die Beschäftigten selbstständig Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen machen können?
- Welche Institutionen in der Umgebung sind barrierearm und können mit den Beschäftigten besucht werden? (z.B: Supermärkte, Museen, …)
Aufgabe 1: Bewegungsmuster aufgreifen
Welche Konsequenzen lassen sich aus dem folgenden Zitat für Ihre praktische Arbeit ziehen?
„Es gilt alle bereits entwickelten Bewegungsmuster, nicht als pathologisch zu klassifizieren. Sie sind aufzugreifen, zu erweitern und in neue Bewegungen zu überführen, die mehr Mobilität, Gestaltungsmöglichkeiten und Teilhabe eröffnen.“ (Bernasconi und Böing 2015, S. 151)
Bernasconi, Tobias; Böing, Ursula (2015): Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer.
Aufgabe 2: Bedeutung von Bewegung für Wahrnehmung
Schließen Sie die Augen und strecken Sie ihre Hand mit der Handfläche nach oben aus. Versuchen Sie Ihre Hand nicht zu bewegen. Eine andere Person legt Ihnen einen Gegenstand in die Hand. Versuchen Sie herauszufinden was es ist, ohne die Hand zu bewegen. Wechseln Sie die Rollen.
- Welche Bedeutung hat Bewegung für die Wahrnehmung?
- Was bedeutet das bezogen auf Menschen, die in ihren Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt sind?
Filme & Tondokumente