Biografie in den
Blick nehmen

PROFIL

Die individuelle Lebensgeschichte mit ihren Höhen und Tiefen, unvorhergesehenen Wendungen und glücklichen Fügungen prägt immer auch das Leben in der Gegenwart: So hängen Vorlieben für einzelne Speisen oder auch Gerüche oft damit zusammen, dass diese Erinnerungen an bestimmte Situationen aus der Vergangenheit wecken. Aber auch Abneigungen können auf zurückliegenden Erfahrungen beruhen. Durch Biografiearbeit kann ein Beitrag dazu geleistet werden, sowohl schöne Erinnerungen zu bewahren als auch das Leben in der Gegenwart besser zu verstehen und Pläne für die Zukunft zu schmieden. 

Lebensgeschichten bewahren und teilen 

Die eigene Biografie ist zunächst einmal etwas sehr Privates. Nicht jede persönliche Geschichte möchte man mit anderen teilen. Manches Erlebnis hat man vielleicht selbst schon wieder vergessen oder behält es lieber für sich. Vieles ist aber auch so schön, witzig oder prägend, dass man es gerne mit anderen Menschen teilen möchte. Für Menschen mit schwerer Behinderung kann es schwierig sein, sich ihre eigene Lebensgeschichte zu erschließen und sich darüber mit anderen Personen auszutauschen. Dies hat oft unterschiedliche Gründe: Zum einen finden sich in den Akten zwar häufig Hinweise auf bisherige Stationen im Leben, die eine Person mit schwerer Behinderung durchlaufen hat. Die Geschichten und Erlebnisse, die sich mit diesen Stationen verbinden, sind aber oft nicht bekannt.

Zum anderen kommt bei Personen, die sich nicht verbalsprachlich äußern können, hinzu, dass mit dem Übergang von einer Institution in  eine andere oder bei einem Wechsel der betreuenden Personen oft nicht nur ein Lebensabschnitt endet, sondern häufig auch Informationen über die Lebensgeschichte dieser Person verloren gehen. Das hat zur Konsequenz, dass viele Menschen mit schwerer Behinderung ihre Biografie mit niemandem teilen können und Mitarbeiter_innen oft nur sehr wenig über ihre Vergangenheit wissen.

Auch an Arbeits- und Bildungsorten ist es daher notwendig, die Vergangenheit der Beschäftigten als wichtig zu begreifen und ihre Biografien in den Blick zu nehmen. Obgleich Biografiearbeit nicht mit dem Ansatz der Rehistorisierenden Diagnostik [i] verwechselt werden darf, kann es gleichzeitig für Mitarbeiter_innen eine enorme Erleichterung ihrer Arbeit darstellen, wenn sie genauer über ihre Lebensgeschichte informiert sind, Vorlieben, Abneigungen, Interessen und Ängste der Beschäftigten kennen und dadurch auch manche ihrer Verhaltensweisen besser nachvollziehen können. Außerdem bietet sich durch das gemeinsame Erkunden der Biografie und das gemeinsame Erinnern an zurückliegende Ereignisse die Möglichkeit, die Lebensleistung der Beschäftigten anzuerkennen.

Lebensgeschichten aufbereiten

Deshalb sollte es auch an Arbeits- und Bildungsorten für Menschen mit schwerer Behinderung gezielte Angebote geben, in denen sich Mitarbeiter_innen gemeinsam mit den Beschäftigten mit ihrer Lebensgeschichte auseinandersetzen. Dabei kann auch die Zusammenarbeit mit Bezugspersonen, die mehr über das Leben dieser Personen berichten können, hierbei wichtig und hilfreich sein. Auch wenn Beschäftigte sich nicht sprachlich äußern können, kann es für sie einen großen Gewinn darstellen, sich auf anderen Wegen mit  ihrer eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen und sich ihrer Lebensgeschichte anzunähern. Zur Dokumentation, aber auch um bestimmte Erlebnisse aus der Vergangenheit mit den Beschäftigten immer wieder einmal zum Thema zu machen, sollten Ergebnisse der Biografiearbeit festgehalten werden. Hierzu bieten sich neben Situationsbeschreibungen insbesondere auch konkrete Materialien, wie Bücher, alte Spielsachen, Fotos, Film- oder Audioaufnahmen an.

Auch wenn unsicher ist, ob ein Beschäftigter in der Lage ist, Lebensereignisse in richtiger Reihenfolge wiederzugeben oder sich überhaupt an Vergangenes zu erinnern, ist davon auszugehen, dass es Schlüsselmomente im Leben jeder Person gibt, die mit bestimmten Vorstellungen oder Emotionen verbunden sind, wenn man durch bestimmte Gegenstände, Gerüche, Geräusche etc. an sie erinnert wird. Aufgabe für Mitarbeiter_innen an Arbeits- und Bildungsorten für Menschen mit schwerer Behinderung ist es aufzuspüren, was solche Assoziationen auslöst, und in der Gegenwart Situationen zu schaffen, die das Erinnern an Vergangenes auf diesem Weg ermöglichen kann.

An Schönes erinnern und die Gegenwart festhalten

Betrachtet man die Biografie, werden immer wieder auch schmerzhafte Erfahrungen, Zeiten langer Krankheit oder persönliche Verluste deutlich werden. Besteht kein expliziter Wunsch des Beschäftigten, müssen diese nicht näher thematisiert werden. Biografiearbeit stellt keine Form der Therapie dar. Besonders erinnerungswürdig und für die Zukunft stärkend kann das Erinnern schöner Erlebnisse, Beziehungen und Erfahrungen sein. Um diese für Menschen mit schwerer Behinderung zugänglich zu machen, sollten multisensorische Zugänge gefunden werden. Die Privatsphäre der Beschäftigten sollte hierbei immer gewahrt und geachtet werden. Hierzu muss innerhalb der Einrichtung das Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass nicht alle Beschäftigten alle Informationen über ihr Leben mit jeder_m Mitarbeiter_in teilen möchten. Ein empathischer und sensibler Umgang mit persönlichen Dokumenten, aber auch die Begleitung durch Mitarbeiter_innen, zu denen ein_e Beschäftigte_r eine vertrauensvolle Beziehung hat, ist daher unerlässlich.

Gleichzeitig gilt es, den ‚Blick zurück‘ auch immer schon im ‚Hier und Heute‘ mitzudenken, also persönlich wichtige Erlebnisse festzuhalten. Beispielsweise sollten besondere Ereignisse des (Arbeits-)Alltags wie besondere Leistungen, Jubiläen, Geburtstage und sonstige Feste mit Hilfe von Video- oder Audiomitschnitten oder auch in Form von konkreten Erinnerungsstücken dokumentiert werden.

Eine vertiefende theoretische Einführung in Theorie, Ziele und Methoden der Sie in den Theoretischen Grundlagen.

Im Folgenden wird ein Konzept vorgeschlagen, wie auch im Alltag der Beschäftigten ihre Biografie in den Blick genommen und zugänglich gemacht werden kann.

[1] Die Rehistorisierende Diagnostik beruht auf der Annahme, dass alle Verhaltensweisen nur angemessen interpretiert werden können, wenn auch die Lebensgeschichte einer Person berücksichtigt wird. Sie versucht daher Zusammenhänge herzustellen zwischen Erlebnissen aus der Vergangenheit und der aktuellen Situation. Ziel ist es, die Persönlichkeit des Menschen so umfassend wie möglich kennenzulernen, um seine aktuelle Situation nachvollziehen und besser verstehen zu können. Vgl. Hennies, J. (2018): „Nichts geschieht einfach so!“ Der Ansatz der Rehistorisierenden Diagnostik in der Betreuungsarbeit.

THEMENSPEKTRUM

Die folgenden exemplarischen inhaltlichen Impulse sollen die Breite des Themenspektrums herausstellen. Sie beziehen sich sowohl auf Mitarbeiter als auch auf Beschäftigte.

  • Umrisse des Körpers nachzeichnen, um das Körperschema auf- und auszubauen und ein Gefühl für die (sich im Laufe des Lebens verändernde) eigene Körpergröße zu bekommen
  • Veränderungen des eigenen Körpers in Pflegesituationen erfahren (z. B. Wachstum, Bartwuchs, Veränderungen der Beweglichkeit)
  • Pflegeutensilien nutzen, um Erinnerungen zu wecken (z. B. Gerüche von Seifen oder Cremes, die an Vergangenes erinnern, z. B. Zeit im Garten)
  • persönliche Merkmale im Spiegel betrachten (z. B. Haarfarbe, Hautfarbe, Frisur, Figur, körperliche Beeinträchtigungen)
  • Alterungsbedingte Veränderungen des Aussehens erlebbar machen (z. B. Fotos von früher mit dem heutigen Spiegelbild vergleichen, dünner werdendes Haar fühlen, erste graue Haare betrachten, Falten)
  • Wirkung des eigenen Äußeren auf andere erleben (z. B. angestarrt werden, als attraktiv empfunden werden)
  • sich mit Veränderungsprozessen in Bezug auf Körperlichkeit, Geschlecht, auseinandersetzen (z. B. Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen, Veränderungen am eigenen Körper)
  • Umgang mit der eigenen Behinderung thematisieren (z. B. was fällt mir leicht, was ist schwer für mich? Hat sich die Behinderung im Laufe der Zeit verändert? Wie hat die Behinderung meine Vergangenheit beeinflusst? Wie möchte ich in Zukunft mit ihr leben?)
  • etwas, das in der Vergangenheit besondere Bedeutung hatte, aufheben und wieder hervorholen (z. B. Bücher, altes Spielzeug) und so Erinnerungen aufleben lassen (z. B. auf Fotos Situationen suchen, in denen dieser Gegenstand da war, berichten lassen, was dieser Gegenstand alles ‚miterlebt‘ hat)
  • ‚ausmisten‘: sich bewusst von Dingen trennen (z. B. Kinderspielzeug)
  • Erinnerungsstücke, die nicht weggegeben werden sollen, aufheben, ggf. ein eigenes kleines Archiv anlegen
  • eigene Gegenstände besitzen, über die man alleine bestimmt (z. B. in einer Kiste aufbewahrte Lieblingsdinge, deren Existenz man von Zeit zu Zeit prüft, sie jemandem zeigt, aber immer behält)
  • Fotos und Videos aus der Vergangenheit betrachten,
  • sich selbst auf alten Audioaufnahmen hören und so die Veränderung der eigenen Stimme wahrnehmen
  • eigene Veränderungen des Körpers auf Fotos und mit Hilfe von Gegenständen wahrnehmen (z. B. Wachstum, Frisuren, Bartwuchs, Kinderkleidung)
  • sich selbst und Bezugspersonen auf alten Fotos wiedererkennen
  • Audio- und Filmaufnahmen anhören/anschauen und in Erinnerungen schwelgen (z. B. wann wurden die Aufnahmen gemacht? Zu welchem Anlass wurden sie gemacht? Wie ging es mir damals? Was hat sich seitdem verändert?)
  • jedes Jahr zum Geburtstag ein Foto machen, um die Veränderungen im Verlauf des Lebens festzuhalten
  • mit Hilfe solcher Dokumente die eigene Lebensgeschichte nachvollziehen
  • Lieder aus der Kindheit oder die Intro-Melodien von Fernsehserien, die früher geschaut wurden, anhören und sich gemeinsam erinnern
  • Gefühle wahrnehmen, die Lieder und Melodien aus einer früheren Zeit hervorrufen (z. B. Freude, Geborgenheit, Traurigkeit)
  • sich an Personen erinnern, die diese Lieder häufig mit- oder vorgesungen haben
  • Lieblingslieder von früher mit heutigen Lieblingsliedern vergleichen (Was hat sich verändert? Woran könnte das liegen?)
  • Gerüche und Geschmäcker aus der Vergangenheit in die Gegenwart holen (z. B. eine Lieblingsspeise aus der Kindheit zubereiten, ein bestimmtes Pflegeprodukt von früher benutzen)
  • eigene Vorlieben und Abneigungen in Bezug auf Geruch und Geschmack kennen und Produkte danach auswählen (z. B. beim Einkaufen, in Pflegesituationen, beim Essen)
  • unterschiedliche Gerüche, die eine besondere Assoziation hervorrufen, „konservieren“ (z. B. Parfum von Bezugspersonen, Zimt, den es immer zum Milchreis in der Kindheit gab)
  • Bilanz ziehen (Erfolge feiern, einschneidende Erlebnisse aufarbeiten)
  • das Leben in Abschnitte teilen (z. B. Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter oder anhand von wichtigen persönlichen Wendepunkten im Lebenslauf)
  • Akten und Dokumentationen nutzen, um wichtige Etappen im Leben nachzuzeichnen (z. B. Wohnorte, Betreuungsorte, Wechsel von Bezugspersonen)
  • Dokumentationen nutzen, um die bisherige Entwicklung zu dokumentieren (z. B. welche Fähigkeiten sind neu erworben, welche verloren gegangen?)

siehe auch

 

in den theoretischen Grundlagen: Biografie in den Blick nehmen

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(weiterführende) MATERIALIEN

Bader, I. (1988): Lebensgeschichte und Lebenswelt schwer geistig behinderter Menschen. Gedanken zu einer biographisch orientierten Entwicklungsförderung. In: Zur Orientierung 12 (4), S. 19-21.
Belot, M. (2018): Projekt: Mein Leben – individuelle Planung der Begleitung für Personen mit schwerer Behinderung. [1. Auflage]. Hg. v. Andreas Fröhlich und Thérèse Musitelli. Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben.
Blok, N. (2015): Zukunftsplanung? Auch für Menschen mit Komplexer Behinderung im Alter. In: Maier-Michalitsch, N.; Grunick, G. (Hg.): Alternde Menschen mit Komplexer Behinderung. Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben, S. 130-139.
Lindmeier, B.; Oermann, L. (Hg.) (2014): Mein Lebensbuch. Was für mich und andere wichtig ist. Karlsruhe: Von-Loeper-Literaturverlag.
Lindmeier, B.; Stahlhut, H.; Oermann, L.; Kammann, C. (2018): Biografiearbeit mit einem Lebensbuch. Ein Praxisbuch für die Arbeit mit erwachsenen Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung und ihren Familien. Weinheim: Beltz Juventa.
Lindmeier, Ch. (2013): Biografiearbeit mit geistig behinderten Menschen. Ein Praxisbuch für Einzel- und Gruppenarbeit. 4. Aufl., Weinheim/ Basel: Beltz Juventa.
Rebel G. (2011): Biografiearbeit mit Bewegung und Tanz – Der Körper erinnert sich. In: Hölzle, Ch.; Jansen, I. (Hg.): Ressourcenorientierte Biografiearbeit. Grundlagen – Zielgruppen – kreative Methoden. 2., durchges. Aufl. Wiesbaden: VS-Verl. (Lehrbuch), S. 223-235.
Senckel, B. (2019): Im Spannungsfeld von Lebensalter und Entwicklungsalter. In: Mohr, L.; Zündel, M.; Fröhlich, A. (Hg.): Basale Stimulation. Das Handbuch. 1. Auflage. Bern: Hogrefe, S. 537-551.