Taubblindheit/Hörsehbehinderung bei Menschen mit komplexer Behinderung
Carolin Gravel | Prof.in Dr. Karolin Schäfer – Universität zu Köln | Prof.in Dr. Andrea Wanka – Pädagogische Hochschule Heidelberg
Internationale und nationale Definitionen von Taubblindheit/ Hörsehbehinderung
International
Definition
Die World Federation of the Deafblind (WFBD) definiert Taubblindheit wie folgt:
Eine eigenständige Behinderung, die sich aus einer doppelten Sinnesbehinderung ergibt, deren Schweregrad es den beeinträchtigten Sinnen schwer macht, sich gegenseitig zu kompensieren. Im Zusammenspiel mit Barrieren in der Umwelt, beeinflusst/beeinträchtigt sie das soziale Leben, die Kommunikation, den Zugang zu Information, die Orientierung und Mobilität. Um Inklusion und Teilhabe zu ermöglichen, sind Maßnahmen zur Barrierefreiheit und der Zugang zu spezifischen Unterstützungsdiensten erforderlich, wie z.B. Taubblindenassistenz/ Dolmetschende für Taubblindheit [1].
Je nach Grad der doppelten Sinnesbehinderung ist es für die Personen nur schwer bis gar nicht möglich, die ausgefallenen Sinne zu kompensieren. Es handelt sich dabei nicht um eine reine Addition der Beeinträchtigungen, sondern um eine Behinderung eigener Art [2]. Dadurch ergeben sich meist grundlegend andere Bedarfslagen als bei Menschen, die allein sehbehindert/blind oder schwerhörig/taub sind.
Im Jahr 2004 definiert das Europäisches Parlament in einer Erklärung zu den Rechten von taubblinden Menschen, „dass Taubblindheit eine ausgeprägte Behinderung in Form einer Kombination von Seh- und Hörbehinderungen ist, was zu Schwierigkeiten beim Zugang zur Information, Kommunikation und Mobilität führt“ und erklärt zur Personengruppe weiter, „dass einige dieser Menschen völlig taubblind sind, die meisten von ihnen jedoch noch über eingeschränkte Fähigkeiten zum Gebrauch eines oder beide Sinne verfügen“ [3].
National
Definition mit Bezug
zur Teilhabe
Auf der Basis dieser Definition hat der Gemeinsame Fachausschuss hörsehbehindert/taubblind (GFTB) 2005 eine eigene Definition erstellt und unterscheidet dabei zwischen Hörsehbehinderung und Taubblindheit. Bei letzterer wird ausgeschlossen, dass das jeweils ggf. noch vorhandene Seh- und/oder Hörvermögen durch optische und/oder akustische Hilfsmittel „im Sinne der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft verwertbar[…]“ [4] gesteigert werden kann. Darüber hinaus erklärt der GFTB, dass bei Taubblindheit „ein natürlicher wechselseitiger, für eine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft verwertbarer Ausgleich durch Sinnesreste nicht stattfindet und auch nicht entwickelt werden kann“ [5] während dies bei einer Hörsehbehinderung durch Unterstützung durch Dritte ermöglicht werden könnte.
TBI als Merkzeichen
In Deutschland ist Taubblindheit als Behinderung eigener Art erst seit 2016 mit dem Merkzeichen (TBl) für den Schwerbehindertenausweis anerkannt. An das Merkzeichen sind jedoch keine direkten Leistungen gekoppelt und es ist laut Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) § 3 Abs. 1 Nr. 8 nur für Personen auszustellen, „wenn der schwerbehinderte Mensch wegen einer Störung der Hörfunktion mindestens einen Grad der Behinderung von 70 und wegen einer Störung des Sehvermögens einen Grad der Behinderung von 100 hat“. Finanzielle Nachteilsausgleiche wie das Taubblinden- oder Hörsehbehindertengeld werden nur in wenigen Bundesländern angeboten. In der Praxis erweist sich Taubblindheit als weites Spektrum mit unterschiedlichen Bedarfslagen der jeweiligen Menschen. Die Schwerbehindertenausweisordnung gibt hingegen sehr hohe Grade der Behinderung (GdB) vor, um das Merkzeichen zu erhalten. Das führt dazu, dass nur ein kleiner Teil der gesamten Zielgruppe de facto Anspruch auf das Merkzeichen hat.
Kritik der
Verbände
Selbstvertretungsverbände und Organisationen in dem Bereich kritisieren dies seit längerer Zeit und betonen zum einen, dass an das Merkzeichen z.B. finanzielle Nachteilsausgleiche und eine bestimmte Anzahl von Assistenzstunden gekoppelt sein müssten und zum anderen, dass auch Menschen ohne das Merkzeichen TBl großen Bedarf an Unterstützungsleistungen haben könnten, die jedoch aufgrund der engen Definition in der Schwerbehindertenausweis-verordnung gänzlich unberücksichtigt bleiben [6].
Personenkreis „Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung“
Prävalenz international
und national
Menschen mit Taubblindheit bzw. Hörsehbehinderung stellen eine relativ kleine, dafür jedoch sehr heterogene Minorität dar. Die World Federation of the Deafblind geht davon aus, dass Menschen mit Taubblindheit bzw. Hörsehbehinderung ca. 0,2-2 % der Weltbevölkerung ausmachen [7]. Wie viele taubblinde/ hörsehbehinderte Menschen in Deutschland leben ist unklar. In Fachkreisen geht man schätzungsweise von ca. 8000-10.000 Personen aus [8]. In diese Berechnung wird jedoch der Personenkreis, der erst im Alter eine (hochgradige) Hör- und Sehbehinderung erwirbt, ausgeschlossen [9]. Die Schwierigkeit, eine genaue Prävalenz zu erheben, liegt unter anderem daran, dass die Ausprägungen von Taubblindheit und Hörsehbehinderung sehr unterschiedlich sein können und dass keine einheitliche Diagnostik und entsprechende Definition existiert [10].
Im fachlichen Diskurs bestehen je nach Perspektive unterschiedliche Einteilungsweisen der Personengruppe. Unter anderem sind Einteilungen nach dem Eintrittszeitpunkt verbreitet, aber auch die nach der Kommunikationsform und nach dem funktionalen Sinnesvermögen.
Personengruppen
Betrachtet man den Eintrittszeitpunkt der Taubblindheit ergeben sich für den Personenkreis bislang vier Gruppen:
Die letztgenannte Gruppe bilden vor allem ältere Menschen [11]. Aufgrund des voranschreitenden demographischen Wandels ist davon auszugehen, dass gerade die Häufigkeit einer erworbenen Hörsehbehinderung im Alter weiter ansteigt. Durch die immer besser werdende medizinische Versorgung und das verbesserte Management von Frühgeburtlichkeit steigt ebenso die Häufigkeit von Menschen mit angeborener Taubblindheit/Hörsehbehinderung und komplexer Behinderung.
Personengruppen
Bedeutung des
Erwerbszeitpunktes
Große Unterschiede zwischen den Gruppen entstehen auch durch die erlernten oder genutzten Kommunikationsformen. Dabei ist vor allem ausschlaggebend, ob die Taubblindheit/ Hörsehbehinderung vor oder nach dem Spracherwerb eingetreten ist. Während bei einer sogenannten erworbenen Taubblindheit in den allermeisten Fällen bereits ein Sprachverstehen, laut- oder gebärdensprachlich, besteht, werden bei einer angeborenen Taubblindheit ohne Möglichkeit oder mit eingeschränkten Möglichkeiten einer visuellen und/oder auditiven Kompensation des jeweils anderen Sinnes andere Wege der Begleitung der Kommunikationsentwicklung gewählt.
Erwerbszeitpunkte
Kommunikation bei Taubblindheit/ Hörsehbehinderung
Kommunikationsbedarfe
Wie alle Menschen sind auch Personen mit Taubblindheit/ Hörsehbehinderung auf Kommunikation angewiesen, um mit dem sozialen Umfeld Kontakt aufzunehmen, zu begreifen, zu verstehen. Bei einer doppelten Sinnesbehinderung spielt dabei vor allem das gegenseitige Einlassen aufeinander und die Berücksichtigung der individuellen Kommunikationsmöglichkeiten eine bedeutsame Rolle:
Personen mit Taubblindheit brauchen PartnerInnen, die in der Lage sind, die Welt mit ihnen zu teilen und die fähig sind, auf ihre Weise zu kommunizieren. Dies trifft auf taubblindgeborene Menschen ebenso zu wie auch auf Personen mit einer erworbenen Taubblindheit und natürlich auch auf alle älteren Menschen, die zu dieser Gruppe gehören [12].
Die Kommunikationsmöglichkeiten und -bedarfe innerhalb der Gruppe von Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung sind vielfältig. Für den Bereich der Kommunikation ist insbesondere entscheidend, ob die Taubblindheit/Hörsehbehinderung vor oder nach dem Spracherwerb erworben wurde. Darüber hinaus sind auch die verfügbaren Ressourcen, im Sinne von vorhandener professioneller Begleitung und Beratung, ausschlaggebend für eine taubblindenspezifische Kommunikationsentwicklung und -aufrechterhaltung. In Deutschland sind diese Angebote noch nicht flächendeckend vorhanden. In manchen Bundesländern gibt es sogar gar keinen Zugriff darauf.
Vor dem Spracherwerb
Wenn aufgrund einer bestehenden, meist kongenitalen Taubblindheit/Hörsehbehinderung ein Spracherwerb einer Laut- und/oder Gebärdensprache nicht bzw. nur sehr eingeschränkt möglich ist, gestaltet sich der Zugang zu einer wechselseitigen Kommunikation vor allem über einen körperlich-taktilen Ansatz. Es besteht eine radikal andere Wahrnehmung der Welt, wie sie bei hörend-sehend-geborenen Menschen vorliegt. Daraus ergibt sich eine andere Begriffsbildung und Entwicklung von Kommunikation [13]. Der Körper, insbesondere die Nahsinne und die Hände spielen bei der Kommunikationsanbahnung eine wichtige Rolle [14]. Um Signale des taubblinden/hörsehbehinderten Kindes wahrzunehmen und richtig zu deuten und „[u]m Erlebnisse und Emotionen miteinander teilen zu können, bedarf es eines hochgradig empathischen Gegenübers mit Fachwissen über Entwicklung im Allgemeinen und über Hörsehbehinderung/Taubblindheit im Speziellen“ [15]. Die Wahrnehmung der Welt ist bei einer angeborenen Taubblindheit/ Hörsehbehinderung (vor allem) durch körperlich-taktile Eindrücke geprägt. Darauf basierend können sich mentale Vorstellungen und eine Konzeptbildung entwickeln, die hörend-sehende Personen teilweise nicht immer direkt nachvollziehen können. Dahingehend muss sich das Gegenüber auf das Kommunikationsverhalten der Person mit Taubblindheit/ Hörsehbehinderung einlassen und die eigenen Kompetenzen weiterentwickeln, um verstehbar auf die Äußerungen eingehen zu können. Wenn diese Grundlage gelegt ist, kann ein konkretes Vorgehen folgen. Das heißt zum Beispiel, dass die Person mit Taubblindheit etwas erlebt und das Gegenüber dieses Erlebnis mit ihr teilt. Dies kann auch geplant, beruhend auf den Interessen der Person mit Taubblindheit, geschehen. In der kompetenten Kommunikationsbegleitung entstehen auf diese Weise Gesten, auf die eingegangen wird. Zusammen wird dann versucht, eine gemeinsam geteilte Bedeutung von einer Äußerung, die auf einem Erlebnis beruht, zu erschaffen. Das ist in der Regel eine individuelle Geste oder Gebärde. Im weiteren Verlauf der Kommunikationsbegleitung kann auch auf konventionelle Gebärden zurückgegriffen werden. Jedoch steht nicht der Vokabelaufbau im Vordergrund, sondern der gemeinsame Weg einer natürlichen Kommunikationsentwicklung miteinander über etwas reden zu können. Es geht also nicht lediglich um Impulssetzungen von außen, sondern um eine partnerschaftliche Entwicklung der individuellen Kommunikationsmöglichkeiten.
Nach dem Spracherwerb
Wenn ein Spracherwerb einer Laut- und/oder Gebärdensprache möglich ist, werden diese in den meisten Fällen über das ganze Leben weiterverfolgt. Je nach Erstsprache und Umfeld der Person gehen entsprechende Sozialisationsprozesse damit einher. Neben den natürlichen Sprachen sind auch taktile Kommunikationssysteme wie das Taktile Gebärden und das Lormen verbreitet. Darüber hinaus spielt insbesondere für blinde Personen auch die Brailleschrift für die Kommunikation eine große Rolle. Als weitere Unterstützung können analoge Bezugsobjekte, aber auch digitale Geräte wie Tablets und Smartphones sowie Assistive Technologien (z.B. Vorlese- oder Vergrößerungssoftware) dienen [16].
Häufig verwendete Kommunikationsformen
Um eine gute Kommunikationssituation zu ermöglichen, ist sowohl die Kommunikationsform als auch die Kommunikationsumgebung entscheidend. Das bedeutet, dass beispielsweise ggf. auf eine ruhige Umgebung geachtet werden sollte oder ausreichend Licht vorhanden ist, damit die Person ihr Gegenüber gut erkennen kann. Der individuelle Bedarf der taubblinden/hörsehbehinderten Person sollte geklärt und entsprechend berücksichtigt werden. Zu beachten gilt außerdem, dass taubblinde/hörsehbehinderte Menschen stark von der Kommunikationskompetenz ihrer Bezugspersonen abhängig sind [17], was den hohen Bedarf an Schulungen und spezifischer Qualifizierung (z. B. zur Taubblindenassistenz oder zum Taubblindenpädagogen bzw. zur -pädagogin) begründet.
Bedeutung von Taubblindheit/Hörsehbehinderung in der Arbeit mit Menschen mit komplexer Behinderung
Hohe Dunkelziffer
Eine doppelte Sinnesbehinderung kommt im Kontext von komplexer Behinderung häufig vor, bleibt aber nicht selten unsichtbar. 72% der Menschen mit angeborener Taubblindheit/Hörsehbehinderung haben eine zusätzliche geistige Behinderung und 58% eine körperliche oder motorische Beeinträchtigung [18]. Man geht darüber hinaus von einer hohen Dunkelziffer der Taubblindheit/Hörsehbehinderung aus [19], so dass viele Menschen mit komplexer Behinderung davon betroffen sind, ohne dass das Umfeld Kenntnis darüber hat [20]. Schätzungsweise handelt es sich um jeden vierten oder fünften Menschen mit komplexer Behinderung [21].
Möglichkeiten zur Diagnostik sind zwar vorhanden, aber für Menschen mit komplexer Behinderung häufig nur eingeschränkt einsetzbar, wenn ein Feedback zur Hör- und Sehfähigkeit erforderlich ist, indem die Person eine für Außenstehende lesbare Reaktion zeigen oder aktiv Rückmeldung geben soll. Reine Beobachtungsverfahren verfügen zumeist nur über eine geringe Sensitivität und Spezifität, so dass viele Personen mit Sinnesbeeinträchtigung fälschlicherweise nicht identifiziert werden oder aber als auffällig eingestuft werden, obwohl sie keine Sinnesbeeinträchtigungen haben [22].
Der Einsatz objektiver Verfahren zur Sinnesdiagnostik erfolgt häufig klinisch, so dass Zugangsbarrieren für Menschen in Wohneinrichtungen bestehen [23]. Eine Vorstellung zu einem Kliniktermin ist oftmals kräftezehrend und auch organisatorisch herausfordernd: Angehörige bzw. die rechtliche Betreuung müssen einverstanden sein, ggf. den Termin vereinbaren und begleiten, Überweisungen müssen ausgestellt und die Fahrt in die Klinik organisiert werden. Die Erfahrung zeigt, dass solche Termine häufig nur im Falle akuter Erkrankungen erfolgen (z. B. sichtbare und schmerzhafte Entzündungen der Augen oder Ohren), aber nicht zur Feststellung von Hör- oder Sehverlusten sowie zentralen Hör- und Sehauffälligkeiten, auch nicht nach einer Verdachtsdiagnose [24]. Nicht selten sind auch Fehlversorgungen bei Seh- oder Hörhilfen sowie fehlerhaft angepasste Hilfsmittel oder mangelhafte gesundheitliche Versorgung in den Sinnesbereichen [25].
Auswirkungen
nicht-erkannter
Hör- und Sehprobleme
Die Auswirkungen einer eingeschränkten Hör- und Sehfähigkeit werden von Bezugspersonen von Menschen mit komplexer Behinderung in vielen Fällen eher der sichtbaren körperlichen bzw. geistigen Beeinträchtigung zugeordnet. Dabei hat eine Taubblindheit/ Hörsehbehinderung erheblichen Einfluss auf die Kommunikationsmöglichkeiten. Ein eingeschränkter Wahrnehmungsradius durch Beeinträchtigung oder Wegfall der Fernsinne kann zu einer Verstärkung der Auswirkungen der komplexen Behinderung auf die Teilhabechancen führen, da eine Informationsaufnahme für die betroffenen Menschen nur noch über die verbleibenden Sinne wie Riechen, Schmecken und Fühlen möglich ist [26].
Eine Taubblindheit/Hörsehbehinderung führt dazu, dass die betroffenen Menschen Kommunikations- und Interaktionsverhalten in der Umgebung nur erschwert wahrnehmen und daher auch nur eingeschränkt darauf eingehen können. Infolgedessen kommt es zu Beeinträchtigungen der Kommunikation mit anderen [27].
Dabei sind nicht nur permanente Hör- und Sehverluste bei Menschen mit komplexer Behinderung relevant, sondern auch temporäre oder chronische Erkrankungen sowie schwelende Entzündungen, die ggf. unbemerkt bleiben, weil sie nicht sichtbar sind und von den Betroffenen nicht mitgeteilt werden können. Während ein entzündetes Auge häufig schnell vom Umfeld bemerkt wird, ist das bei den Ohren z. B. im Rahmen einer Mittelohrentzündung häufig nicht der Fall. Dabei sind gerade Mittelohrprobleme bei Menschen mit starken Mobilitätseinschränkungen besonders häufig, ebenso wie Verschlüsse der Gehörgänge durch Ohrschmalzpfropfe: Durch häufiges Liegen und seltene Ohrreinigung kann sich Ohrenschmalz ansammeln und nicht gut abfließen. Eine veränderte Anatomie der Gehörgänge, wie es z. B. bei vielen Menschen mit Syndromen auftritt, können ebenfalls zu wiederholten Paukenergüssen führen und langfristig permanente Hörverluste auslösen [28].
Zusätzlich können dadurch starke Schmerzen auftreten, die in vielen Fällen jedoch nicht geäußert bzw. nicht verstanden werden können. In Folge einer Nichtbehandlung können sich auch chronische Schmerzen entwickeln, die erhebliche Auswirkungen auf die Lebensqualität der Person haben.
Beeinträchtigungen des funktionalen Sehens sind außerdem bei Menschen mit cerebralen Schädigungen häufig und daher ebenfalls stark assoziiert mit komplexer Behinderung [29].
Symptome für
Sinnesbeeinträchtigungen
Die folgenden Symptome könnten Bezugspersonen in Alltagsbeobachtungen auffallen und Ausdruck von Hör- und Sehstörungen sein:
Symptome, die auf Sinnesbeeinträchtigung hindeuten
Verwechslungsgefahr
mit Verhaltensauffälligkeit
und ASS
Symptome von Taubblindheit/Hörsehbehinderung können vorschnell als herausfordernde Verhaltensweisen gedeutet werden, wenn die betroffenen Menschen nicht adäquat auf Geräusche reagieren, distanzlos auftreten oder aber Blickkontakt vermeiden. Auch die Vermutung einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) könnte naheliegen, wenn Reaktionen anders ausfallen und Mimik und Gestik abweichend sind von den Reaktionen, die eigentlich erwartet werden (z. B. zustimmendes Lächeln, beipflichtender Blick, Traurigkeit oder Ähnliches). Diese Verhaltensweisen werden im Fachbereich häufig als pseudo-autistisch benannt, da sie an das Verhalten von Menschen im Autismus-Spektrum erinnern, jedoch eine andere Ursache, nämlich die Sinnesbehinderung, haben. Im Zusammenspiel mit Umweltfaktoren wie das fehlende Eingehen auf die Sinnesbehinderung und die daraus resultierenden Kommunikationsbarrieren können überfordernde Situationen entstehen, auf die die Person mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung mit ihren Mitteln reagiert.
Eigenwahrnehmung
häufig schwierig
Den Betroffenen selbst fällt es verständlicherweise schwer, Beeinträchtigungen bei sich selbst zu bemerken und anderen mitzuteilen, vor allem, wenn die Kommunikationsmöglichkeiten ohnehin schon eingeschränkt sind. Kinder, die von Geburt an taubblind/hörsehbehindert sind, wissen zudem in der Regel nicht, dass andere anders sehen und/oder hören können. Daher gibt es für sie keinen Grund etwas zu äußern, da für sie die Wahrnehmungssituation gegeben und nicht außergewöhnlich ist.
Aktuelle Bemühungen zur Diagnostik von Hör- und Sehschwierigkeiten bei Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung bilden vor allem die Kombination aus klinischen objektiven Prüfverfahren sowie subjektiven Verfahren zur Beobachtung des Hör- und Sehverhaltens im Alltag.
Chancen einer
Diagnose
Bereits das Wissen über die Häufigkeit von Sinnesbeeinträchtigungen bei Menschen mit komplexer Behinderung kann dazu beitragen, dass Bezugspersonen das Verhalten und die Reaktionen der Betroffenen anders betrachten und sensibel für die Identifizierung möglicher Auffälligkeiten werden. Es ist wichtig zu erwähnen, dass Hör- und Sehbeeinträchtigungen nicht unbehandelt und unbegleitet bleiben müssen und dass eine taubblinden-/hörsehspezifische Förderung dazu beitragen kann, dass sich die Kommunikationsmöglichkeiten der Betroffenen schrittweise verbessern können, z. B. durch die oben genannten Maßnahmen zur Begleitung in der kommunikativen Entwicklung durch eine*n kompetente*n Kommunikationspartner*in.
Das Problem der
Unterversorgung
Momentan gibt es Hinweise darauf, dass viele Menschen mit komplexer Behinderung trotz bekannter Diagnose einer zusätzlichen Sinnesbeeinträchtigung nicht behandelt und auch selten mit Hilfsmitteln versorgt werden [30]. Häufig erhalten sie auch keine taubblinden-/hörsehbehindertenspezifische Förderung. Hier mag der Aspekt eine Rolle spielen, dass das Umfeld überlegt, ob sich der Aufwand der Maßnahmen angesichts anderer sichtbarer, vermeintlich im Vordergrund stehender körperlicher und geistiger Behinderung überhaupt „lohnt“. Darüber hinaus fehlt eine flächendeckende Beratung und Begleitung durch kompetenten Fachpersonen, die aufklären und Bewusstsein schaffen könnten.
Eine wichtige Entwicklung in diesem komplexen Geschehen stellt die Verbesserung der Diagnostik- und Versorgungssituation dieser Personengruppe dar. Sofern außerdem gezielte Aufklärung und Sensibilisierung des Umfelds betrieben, die kommunikativen Entwicklung begleitet wird und/oder vielfältige Kommunikationsformen als Ressource genutzt werden, kann sich die Situation der Betroffenen deutlich verbessern.
Herausforderungen einer
fehlenden Gemeinschaft
Eine bestehende Herausforderung ist das weitgehende Fehlen einer „Deafblind Community“, so dass Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung (noch) keine eigene Gruppe bzw. kulturelle Minderheit bilden wie die Menschen aus der Gehörlosengemeinschaft (Deaf Community). Dies ist vor allem der hohen Heterogenität der Personengruppe geschuldet (angeboren vs. erworben, unterschiedliche Schweregrade der Hör- und Sehverluste, Nutzung verschiedener Kommunikationsformen etc.). Dennoch gibt es Bestrebungen von Selbstvertretungsorganisationen und -verbänden, die vielfältigen Bedarfe und Forderungen einzubinden, um sich für die Belange möglichst aller Personen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung einzusetzen.
Herausforderungen einer
heterogenen Gruppe
Hinzu kommt, dass Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung weit verstreut und in verschiedenen Settings wohnen, z. B. bei der Familie, in Einrichtungen der Behindertenhilfe oder im Alter in Pflegeeinrichtungen. Kinder mit kongenitaler Taubblindheit/ Hörsehbehinderung werden meist in Förderzentren und -schulen mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten unterrichtet, andere Kinder besuchen inklusive Schulen. Zwar gibt es auch spezialisierte Einrichtungen vor allem für die Bereiche Wohnen und Arbeiten für Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung, jedoch zeigt sich auch hier die hohe Heterogenität der Personengruppe mit sehr unterschiedlichen Unterstützungsbedarfen in Bildung und Alltag.
Was ist notwendig, um das Thema „Taubblindheit/ Hörsehbehinderung“ in der Arbeit mit Menschen mit komplexer Behinderung berücksichtigen zu können?
Verbesserung von
Ausbildung und
Qualifizierung
Damit sich die Situation von Menschen mit komplexer Behinderung, die zusätzlich taubblind/hörsehbehindert sind, nachhaltig verbessert, ist die Ausbildung und Qualifizierung von Fachpersonal, das über ein hohes Fachwissen über diese spezifische Sinnesbehinderung in ihren unterschiedlichen Ausprägungsformen verfügt, unabdingbar. Auch Angehörige und weitere Bezugspersonen sollten ihr Wissen einbringen und zugleich informiert sowie geschult werden, damit sie individuelle Kommunikationsformen besser deuten und darauf eingehen können. Studien haben gezeigt, dass die prompte Wahrnehmung und Bestätigung kommunikativer Verhaltensweisen dazu führen, dass sich Menschen mit Taubblindheit besser wahrgenommen und selbstwirksamer fühlen [31]. Neben dem Bereich der Kommunikation sollten auch weitere Teilhabebereiche und -barrieren sowie Umweltfaktoren beachtet werden. Dazu zählen unter anderem Orientierung und Mobilität, der Zugang zu Informationen, aber auch ein Verständnis für die zeitliche Perspektive im Sinne eines Mehrbedarfs an Wiederholung und Zeit für Kommunikation und Handlungen.
Gesellschaftliche
Aufklärung und
Empowerment
Auch die gesellschaftliche Aufklärung und das Empowerment der Personen selbst gehören zur Verbesserung der Partizipation und Teilhabe. Beratungsangebote und Unterstützungsmöglichkeiten müssen nicht nur niedrigschwellig erreichbar, sondern auch einfach und wiederholt nutzbar sein. Menschen mit komplexer Behinderung befinden sich häufig in einem Spannungsfeld verschiedener Personen bzw. Einrichtungen, die für sie zuständig sind und von deren Einsatz und Motivation sie zugleich stark abhängig sind. Wenn Hilfen beantragt, Termine und Fahrdienste organisiert werden müssen, muss das Netzwerk um die Betroffenen herum funktionieren. Es bleibt zu wünschen, dass sich diese Situation durch kontinuierliche Aufklärung, Sensibilisierung des Umfelds sowie Berücksichtigung der Thematik in der Ausbildung von pflegerischem, therapeutischem und pädagogischem Personal verbessern lässt.
Quellen
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Literatur
Literatur
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Impulsfragen
Impulsfragen
- Wie können Hör- und Sehfähigkeit beobachtet werden? Welche Hinweise könnten auf Hör- und Sehschwierigkeiten hindeuten?
- Inwiefern begleiten Sie eine Versorgung mit Hör- und Sehhilfen bei Menschen mit komplexen Behinderungen bei Ihnen in der Einrichtung?
- Welche Sprachen und Kommunikationsmöglichkeiten nutzen Sie in Ihrem Berufsalltag? Inwiefern könnten Sie das Kommunikationsangebot erweitern und individuell anpassen?
- Welche Barrieren im Hinblick auf eine gleichberechtigte Teilhabe spielen im Bereich Taubblindheit/Hörsehbehinderung in Ihrem Berufsalltag eine besondere Rolle? Durch welche konkreten Maßnahmen könnten diese abgebaut werden?
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