Erwachsen sein

Icon-Profil: Eine weiße Silhouette eines männlichen und weiblichen Kopfes im Profil, die in entgegengesetzte Richtungen blicken, steht zentriert auf einem roten Hintergrund. Die Merkmale sind minimalistisch und vermitteln ein klares und geradliniges Erscheinungsbild.

PROFIL

Was genau es heißt, erwachsen zu sein, ist nicht allgemein zu klären. Dennoch ranken sich um den Übergang ins Erwachsenenalter viele Mythen. Kinder und Eltern fiebern häufig darauf hin. Die einen, weil sie von mehr Freiheit träumen, die anderen, weil sie sich freuen, Verantwortung abzugeben. Während es juristisch betrachtet Altersgrenzen gibt, mit deren Erreichen eine Person als „Erwachsene_r“ gilt, sind diese Grenzen in der persönlichen Wahrnehmung fließender.

Erwachsen zu werden und zu sein, kann als andauernder Prozess betrachtet werden, der häufig mit der Rebellion von Jugendlichen und einer zunehmenden Ablösung vom Elternhaus beginnt. Zunehmend wachsen die Jugendlichen in andere Lebensformen und Aufgaben hinein, die als typisch für Erwachsene gelten, beispielsweise das eigene Leben im Rahmen der Möglichkeiten nach individuellen Vorstellungen zu gestalten.  Hierbei ist es notwendig, seine eigene Identität auszubilden, sich mit Zukunftswünschen auseinanderzusetzen und tragfähige Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen.

Vor diesen typischen Entwicklungsaufgaben stehen auch Menschen mit schwerer Behinderung (vgl. Fischer 2012, S. 1). Jedoch ist es für sie aufgrund des hohen Unterstützungsbedarfes häufig schwieriger, die genannten Ablösungsprozesse zu vollziehen, da sie Unterstützung von genau den Personen benötigen, von denen sie sich eigentlich lösen sollten (vgl. Hennies/Kuhn 2004, S. 134).

Daher ist es bedeutsam, dass den Beschäftigten am Arbeits- und Bildungsort Angebote eröffnet werden, die so reichhaltig sind, dass sie dabei Unterstützung bieten, die eigene Vorstellung von einem guten Leben zu formen und auszubauen. Hierzu gehört auch, ihnen Möglichkeiten zu eröffnen, an zentralen Aufgaben des Erwachsenenalters, an Arbeit und gleichberechtigten Beziehungen, teilzuhaben.  Gleichzeitig kann dem Arbeits- und Bildungsort auch die Aufgabe zukommen, gemeinsam mit den einzelnen Beschäftigten ihre Zukunft zu planen.

Der Besuch des Arbeits- und Bildungsortes eröffnet den Beschäftigten dabei auch die Möglichkeit, Hierbei gilt es, individuelle Lösungen zu finden, die den Voraussetzungen und Persönlichkeiten der Beschäftigten gerecht werden (vgl. Fröhlich 2012, S. 9).

An Arbeits- und Bildungsorten stellt sich somit die Aufgabe, Lebensentwürfe für das Erwachsenenalter zu finden, die angepasst sind an die Lebenswirklichkeit eines erwachsenen Menschen mit schwerer Behinderung. Hierbei darf nicht die Maßgabe dessen, was die Mitarbeiter_innen als normal empfinden, gelten, sondern es müssen individuelle Lösungen gefunden werden (vgl. ebd.). Der Besuch des Arbeits- und Bildungsortes eröffnet den Beschäftigten dabei die Möglichkeit, an zentralen Aufgaben des Erwachsenenalters, wie der Arbeit und der Teilhabe an gleichberechtigten Beziehungen, nachzugehen. Für die Mitarbeiter_innen ergibt sich in der Begleitung ein Spannungsfeld zwischen dem Ermöglichen von individueller Freiheit und Mitbestimmung und der Ermöglichung von Unterstützung, wann immer es notwendig ist.

Icon-Themenspektrum: Symbol eines 'Farbmusterbuchs' auf rotem Hintergrund. Das Buch wird geöffnet und zeigt mehrere in einem Halbkreis aufgefächerte Rechtecke.

THEMENSPEKTRUM

Die folgenden exemplarischen inhaltlichen Impulse sollen die Breite des Themenspektrums herausstellen. Sie beziehen sich sowohl auf Mitarbeiter als auch auf Beschäftigte.

  • den eigenen Körper erfahren und wahrnehmen (z. B. durch Massagen, symmetrisches Ausstreichen der Körperteile)
  • Veränderungen des eigenen Körpers in Pflegesituationen erfahren (z. B. Bartwuchs, Veränderungen der Beweglichkeit)
  • persönliche Merkmale im Spiegel betrachten (z. B. Haarfarbe, Hautfarbe, Frisur, Figur, körperliche Beeinträchtigungen)
  • Umgang mit der eigenen Behinderung thematisieren (z. B. Was fällt mir leicht, was ist schwer für mich? Hat sich die Behinderung im Laufe der Zeit verändert? Wie hat die Behinderung meine Vergangenheit beeinflusst? Wie möchte ich in Zukunft mit ihr leben?)
  • Wirkung des eigenen Äußeren auf andere erleben (z. B. Blicke von Außenstehenden, Komplimente, aber auch Ablehnung)
  • sich mit Veränderungsprozessen in Bezug auf Körperlichkeit, Geschlecht, auseinandersetzen (z. B. Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen, Veränderungen am eigenen Körper)
  • erste Alterungserscheinungen optisch korrigieren (z. B. Haare färben, Anti-Falten-Cremes nutzen)

Literatur

Fischer, U. (2012): Prozesse des Erwachsenwerdens und der Ablösung. In: Maier-Michalitsch, N./ Grunick, G. (Hg.): Wohnen. Erwachsen werden und die Zukunft gestalten mit schwerer Behinderung. Düsseldorf: Verlag selbstbestimmt Leben, S. 16 – 30.

Hennies, I./ Kuhn, E.J. (2004): Ablösung von den Eltern. In: Wüllenweber, E. (Hg.): Soziale Probleme von Menschen mit geistiger Behinderung. Fremdbestimmung, Benachteiligung, Ausgrenzung und soziale Abertung. Stuttgart: Kohlhammer, S. 131 – 147.

Fröhlich, A. (2012): Übergänge und Grenzen. Gedanken zum Erwachsenwerden von Menschen (mit schweren und mehrfachen Behinderungen). In: Maier-Michalitsch, N./ Grunick, G. (2012): Leben pur – Wohnen. Erwachsen werden und Zukunft. Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben, S. 9-15.

siehe auch

 

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(weiterführende) Materialien
Aguayo-Krauthausen, R. (2014): Dachdecker wollte ich eh nicht werden: Das Leben aus der Rollstuhlperspektive. Hamburg: Rowohlt.
Bader, I. (1988): Mit allen Sinnen fühlen. Schwer geistig behinderte Menschen und ihre Sexualität. In: Geistige Behinderung 27 (2), S. 101-110.
Bernasconi, T. (Hg.) (2024): Erwachsenwerden mit geistiger Behinderung. Autonomie, Unterstützung, Verantwortung. Stuttgart: Kohlhammer Verlag.
Doose, St. (2012): Zukunft gestalten – Hilfe planen. Methoden einer individuellen Hilfe- und Persönlichen Zukunftsplanung. In: Maier-Michalitsch, N. J.; Grunick, G. (Hg.): Leben pur – Wohnen. Erwachsenwerden und Zukunft gestalten mit schwerer Behinderung. Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben, S. 53-71.
Emmelmann, I.; Greving, H. (2019): Erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Eltern: Vom Ablösekonzept zum Freiraumkonzept (Praxis Heilpädagogik – Konzepte und Methoden). Stuttgart: Kohlhammer.
Fack, U. (1986): Wir sind doch keine Kinder mehr! In: Behinderte 23 (2), S. 48-49.
Grunick, G.; Maier-Michalitsch, N. (Hg.) (2011): Leben pur – Liebe, Nähe, Sexualität bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben.
Hähner, U. (1999): „An Liebe fehlt es nicht“. In: psychosozial; 22 (3).
Holthaus, H.; Pollmächer, A. (2016): Wie geht es weiter? Jugendliche mit einer Behinderung werden erwachsen. 2. Auflage. München: Reinhardt-Verlag.
Jetter, K. (1986): Wie alt sind sie eigentlich? Bleiben sie lebenslang Kinder? – Grundprobleme der Lebensgestaltung mit heranwachsenden und erwachsenen Schwerbehinderten. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 55 (2), S. 130-140.
Knorr, S.; Blume, U. (2011): Sexualität – Auch ich habe ein Recht darauf! In: Grunick, G.; Maier-Michalitsch, N. (Hg.): Leben pur – Liebe – Nähe – Sexualität bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben. S. 172-178.
Kruschel, R.; Hinz, A. (2015): Zukunftsplanung als Schlüsselelement von Inklusion: Praxis und Theorie personenzentrierter Planung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Maier-Michalitsch, N.; Grunick, G. (Hg.) (2012): Leben pur – Wohnen. Erwachsen werden und Zukunft gestalten mit schwerer Behinderung. Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben.
Maier-Michalitsch, N.; Grunick, G. (Hg.) (2013): Leben pur. Bildung und Arbeit von Erwachsenen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf: Verlag selbstbestimmtes leben.
Senckel, B. (2019): Im Spannungsfeld von Lebensalter und Entwicklungsalter. In: Mohr, L.; Zündel, M.; Fröhlich, A. (Hg.): Basale Stimulation. Das Handbuch. 1. Auflage. Bern: Hogrefe, S. 537-551.
Wilken, U.; Jeltsch-Schuldel (Hg.) (2014): Elternarbeit und Behinderung. Empowerment – Inklusion – Wohlbefinden. Stuttgart: Kohlhammer.