Natur erleben

PROFIL

„Du wirst mehr in den Wäldern finden als in den Büchern. Die Bäume und die Steine werden dich Dinge lehren, die dir kein Mensch sagen wird.“ (Bernhard von Clairvaux)

Die Vielfalt der Natur kennenlernen

Natur erleben bedeutet die verschiedenen Naturräume bzw. Ökosysteme, wie z.B. Garten, Wald, Wiese und See, kennenzulernen und dabei vielfältige Erfahrungen zu machen. Erleben kann einerseits ein eher passives ‚Beeindrucktwerden‘ sein, bei dem das natürliche Umfeld bzw. verschiedene Naturphänomene auf einen wirken (z.B. ein Sonnenuntergang, das Meer oder Vogelgezwitscher).

Zum Erleben zählt andererseits auch die aktive Auseinandersetzung, bei der durch verschiedenes Handeln in der Natur (z.B. Spazierengehen, das Sammeln von Naturmaterialien, das Beobachten des Pflanzenwachstums oder des Tierverhaltens) individuelle Erfahrungen erweitert werden können. In der Natur wird besonders der Doppelcharakter von Kontinuität und Wandel im Jahresverlauf erlebbar. So bietet ein Spaziergang im Wald die Möglichkeit sowohl Beständiges wie die vertrauten Wege, Bäume und Hecken zu erkennen als auch den Wandel der Pflanzen wahrzunehmen vom frischen Grün im Frühling zur bunten Laubfärbung im Herbst (Fröhlich 2014, S. 143).

Die Wahrnehmung von Natur bzw. der Umgang mit ihr sind kulturell geprägt. Daher wird „Natur erleben“ hier als ein Schwerpunkt kultureller Teilhabe thematisiert. Das Naturerleben kann zur persönlichen Entwicklung sowie zum physischen und psychischen Wohlbefinden entscheidend beitragen.

Draußen sein

Der Alltag von Menschen mit schwerer Behinderung, ob in Wohneinrichtungen oder an Arbeits- und Bildungsorten, findet häufig in geschlossenen Räumen statt, deren Klima z.B. von Halogenlicht oder Heizungsluft geprägt ist. Umso wichtiger ist es, hierzu einen Ausgleich durch Angebote in der Natur zu schaffen. Ein erster Schritt hin zur Natur bieten die Außenanlagen der Einrichtung, z.B. durch die Bepflanzung des Balkons, das Anlegen eines Hochbeetes oder das Aufstellen einer Vogeltränke. Darüber hinaus sollte es aber auch Möglichkeiten geben ursprünglichere Naturräume kennenzulernen (z.B. See, Berg, Wald).

Um Natur in ihrer Vielfalt und Ursprünglichkeit erleben zu können sind Menschen mit schwerer Behinderung auf Unterstützung angewiesen. Dies trifft nicht nur auf Fragen der Mobilität zu (Wie können Wälder, Seen und Berge überhaupt erreicht werden?), sondern auch auf die Unterstützung bei der Wahrnehmung von Naturphänomenen und bei den verschiedenen Aktivitäten im Freien. Eine grundlegende Voraussetzung hierfür ist es, dass Aktivitäten und Erlebnisse in der Natur regelmäßig stattfinden. Es bietet sich dabei an, einen bestimmten Ausschnitt der Natur in den Fokus zu rücken, z.B. ein Waldstück, einen Park oder eine ausgewählte Uferstelle, um an diesem Ort die Naturphänomene und -prozesse vertieft multisensorisch erleben zu können.

Natur als etwas Schützenswertes erkennen

Natürliche Lebensräume bzw. verschiedene Ökosysteme sind die Grundlage unserer Existenz. Erst wenn die Vielfalt der Natur einem vertraut ist und eine emotionale Beziehung zu bestimmten Naturräumen besteht, kann ein Verständnis für ihren notwendigen Schutz entstehen. Regelmäßige Angebote zum Erleben der Natur können den Aufbau dieses Verständnisses unterstützen.

THEMENSPEKTRUM

Die folgenden exemplarischen inhaltlichen Impulse sollen die Breite des Themenspektrums herausstellen. Sie beziehen sich sowohl auf Mitarbeiter als auch auf Beschäftigte.

  • Sitzgelegenheiten schaffen und regelmäßig Pausen im Freien verbringen
  • Platz zur Vogelbeobachtung einrichten (Futterhäuschen, Vogeltränke, Nistkasten aufhängen)
  • Balkon bepflanzen (z.B. mit Pflanzen, die Schmetterlinge oder andere Insekten anlocken)
  • Garten anlegen (z.B. mit Hochbeeten, individuelle Abschnitte für die Pflege und Ernte festlegen)
  • regelmäßig die gleiche Runde durch den Park gehen, um die Natur im Wechsel der Jahreszeiten zu beobachten, ggf. durch Fotos dokumentieren (z.B. Blumenrabatte, Sträucher, Baumgruppe, Teich)
  • Tiere im Park beobachten (z.B. Insekten, Eichhörnchen, Enten, Schafe)
  • regelmäßige Ausflüge in den Wald durchführen (z.B. Spaziergänge, Waldtage), um so Wandel und Kontinuität durch die Jahreszeiten im Wald erkennen zu können
  • 5 Minuten still im Wald sein und sich dann über Sinneseindrücke austauschen
  • sich mit einzelnen Tieren des Waldes näher beschäftigen (z.B. Waldvögel, Wildschwein, Rückkehr des Wolfs)
  • mit dem Förster durch den Wald gehen
  • individuelles Waldbuch gestalten (z.B. mit Fotos, gesammelten Pflanzen, Pflanzendrucken)
  • Wurzel- und Bodenschicht:
    • Beschaffenheit des Bodens kennenlernen (ertasten, barfuß laufen)
    • Bodentiere und ihre Bauten beobachten (z.B. Käfer, Ameisenhügel, Fuchsbau)
    • mit Laub hantieren, sich im Laub rollen
    • Moose kennenlernen (z.B. Weichheit des Mooses spüren, verschiedene Farbigkeit erkennen, riechen, Speicherung des Wassers ausprobieren)
    • interessant geformte Steine sammeln und später bemalen
    • Pilze suchen: mit einem Pilzkenner durch den Wald gehen
  • Kraut- und Strauchschicht:
    • verschiedene Kräuter kennenlernen, riechen und ggf. schmecken
    • Kräuter und Beeren sammeln (z.B. um Bärlauchbutter herzustellen, Heidelbeerkuchen oder Brombeermarmelade zuzubereiten)
  • Baum- und Kronenschicht:
    • das Rauschen des Windes in den Blättern hören
    • verschiedene Holzarten kennenlernen (z.B. unterschiedliche Holzstrukturen wahrnehmen, mit Holz bauen, Geräusche erzeugen)
    • unterschiedliche Baumarten erkennen an Stamm, Rinde, Blättern, Früchten (z.B. verschiedene Rinden sammeln, Tiere beobachten, die unter der Rinde leben, Blätter und Früchte der Bäume kennenlernen, Baummobile mit Rinde, Blättern und Früchten bauen)
    • Tiere (z.B. Vögel, Eichhörnchen) beobachten
  • an Feldrändern Blumen pflücken
  • Tiere auf dem Feld beobachten (z.B. Dammwild, Zugvögel, Bussard)
  • Hecken bewusst wahrnehmen (z.B. durch den Duft der Blüten, die Nistplätze von Vögeln, die Ernte von Beeren)
  • auf Spaziergängen wahrnehmen, wie sich Felder im Laufe des Jahres verändern (Wachstum und Ernte von Getreide und Gemüse)
  • mit Bauern und Landarbeitern über die angebauten Pflanzen ins Gespräch kommen, verschiedene Getreidearten kennenlernen
  • eine Bienenweide anlegen
  • körperliche Anstrengung beim Auf- und Abstieg erleben
  • Oberflächen und unterschiedliche Temperatur von Felsen wahrnehmen
  • auf einen Berg in der Umgebung laufen, die Aussicht genießen
  • kleine (Tages-)Wanderungen unternehmen (Wege vorher abgehen, um Rollstuhltauglichkeit zu klären)
  • mit einer Gondel auf den Berg fahren und das Panorama genießen
  • eine einfache Hüttentour unternehmen (mit DAV zusammenarbeiten)
  • Eigenschaften des Wassers wahrnehmen und beobachten
    • Temperatur fühlen und ggf. messen
    • Wassergeräusche und Fließgeschwindigkeiten kennenlernen wie tropfen, plätschern, fließen, rauschen
    • Zustandsformen des Wassers erleben
    • Auftrieb beobachten
    • Wasserläufe stauen, Wege über kleine Bachläufe anlegen, über kleine und größere Brücken gehen
  • am Meer sein
    • am Strand mit Sand hantieren, Wind spüren, im Strandkorb sitzen, (barfuß) am Meer entlang spazieren, baden, ggf. Strandrollstuhl nutzen
    • mit den Füßen durchs Meer waten
    • verschiedene Lebensräume im und am Meer erleben (z.B. Watt, Dünen, Salzwiesen), eine Watt- oder Strandwanderung unternehmen
  • eine Bootsfahrt unternehmen
  • Verhaltensregeln im und am Wasser kennenlernen (z.B. Unterkühlung vermeiden, Strömungen beachten)
  • verschiedene Vegetationszonen der Erde z.B. durch Dokumentationen im Fernsehen, Besuch von Aquarien, Tierparks, tropischen Erlebniswelten u.ä. kennenlernen
  • sich mit besonderen Naturphänomenen beschäftigen (z.B. Erdbeben, Vulkanausbruch): Filme sehen, Geschichten darüber hören, Nachrichten verfolgen, ggf. Modelle bauen, Personen befragen, die so etwas schon einmal erlebt haben

Literatur

FRÖHLICH, A. (2014): Waldesrauschen. In: Fröhlich und Freunde (Hg.): Bildung – ganz basal. Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben, S. 140–152