Orientierung in der Zeit

PROFIL

„Zeit heilt alle Wunden.“ „Kommt Zeit, kommt Rat.“ „Morgen ist auch noch ein Tag.“ „Morgenstund’ hat Gold im Mund.“

Das menschliche Leben besteht im Großen wie im Kleinen aus verschiedenen Aktivitäten und Erfahrungen, die mal länger andauernd, mal in schnellerem Wechsel aufeinanderfolgen. Diese Etappen unterliegen zunächst einmal einem subjektiven Zeitempfinden, das durch individuelle Bedürfnisse wie Hunger, dem Bedürfnis nach Schlaf oder Aktivität beeinflusst wird. Das subjektive Zeitempfinden ist dabei an verschiedene ‚innere Uhren‘ gebunden, die sowohl durch biologische Rhythmen (Verdauung, Hunger, Bedürfnis nach Schlaf), den alltäglichen Rhythmus (Dauer von Aktivität und Ruhe) als auch durch äußere Faktoren (Helligkeit und Dunkelheit) bestimmt werden (vgl. Hinz 2000, S. 16 ff.).

Zeit im Blick

Zudem kann Zeit auch objektiv gemessen werden und stellt dann eine wichtige Orientierungshilfe dar, wenn es beispielsweise darum geht, Termine festzulegen oder auch seinen Tag zu planen. Dabei wird Zeit aus zwei Blickrichtungen betrachtet, zum einen zyklisch, zum anderen chronologisch: Bezogen auf wiederkehrende Ereignisse und Rhythmen wird Zeit als zyklisch, also immer wiederkehrend (Tage, Wochen, Monate, Jahre) wahrgenommen. Eine chronologische, also fortschreitende Betrachtung der Zeit zeigt sich in der Einteilung von Ereignissen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (vgl. ebd. S. 9 ff.).

Für Menschen mit schwerer Behinderung ist eine Orientierung in der Zeit häufig zunächst über das Wahrnehmen von Abläufen und dem subjektiven Empfinden von Zeit möglich (nach dem Tischdecken wird gegessen, nach der Kaffeepause gehe ich wieder an die Arbeit, …). Routinen bilden die Grundlage dafür, bestimmte Aktivitäten im Tagesablauf zu antizipieren. Durch regelmäßig wechselnde Aktivitäten, die einem Wochen-, Monats- oder Jahresrhythmus folgen, kann ein erstes Verständnis einer zyklischen Zeitstruktur aufgebaut werden.

Um Zeitstrukturen wahrnehmen zu können, ist es zudem bedeutsam, dass ein deutlicher Wechsel von Aktivitäten stattfindet und die Übergänge zwischen den Aktivitäten entsprechend begleitet werden, sodass die Möglichkeit besteht, zeitliche Abläufe zu erleben.

Nachfolgend werden Impulse gegeben, wie es gelingen kann, Menschen mit schwerer Behinderung eine Orientierung in der Zeit zu ermöglichen.

THEMENSPEKTRUM

Die folgenden exemplarischen inhaltlichen Impulse sollen die Breite des Themenspektrums herausstellen. Sie beziehen sich sowohl auf Mitarbeiter als auch auf Beschäftigte.

  • Aktivitäten des Tages als nacheinander abfolgende Ereignisse erleben
  • den Tagesplan nutzen, um sich zu orientieren
  • Teilschritte einer Handlung erfahren und selbst umsetzen können
  • Handlungsschritte planen und einhalten (z. B. beim Händewaschen, bei der Herstellung von Produkten nach einer bebilderten Anleitung)
  • Reihenfolgen in sozialen Interaktionen erleben und einhalten (z. B. bei Regelspielen, bei der Essensausgabe)
  • sich über vergangene Ereignisse austauschen und dabei ihre Reihenfolge berücksichtigen
  • Zeitbegriffe verstehen und gebrauchen, um sich im Tagesablauf zu orientieren („zuerst“ – „vorher“ – „dann“ – „danach“ – „später“ – „zuletzt“)
  • eine bestimmte Reihenfolge von Handlungen selbst wählen (z. B. vor der Arbeit noch einen Kaffee trinken, erst die Kartoffeln essen und dann den Rest)
  • den Unterschied zwischen Tag und Nacht erfahren (z. B. anhand von Aktivitäten, Orten, Helligkeit)
  • die Struktur des Tages durch Ortswechsel für die verschiedenen Aktivitäten erleben (z. B. Wechsel vom Gruppen- in den Speiseraum, Arbeiten in der Werkstatt, die Pause im Grünen verbringen)
  • den Tagesrhythmus durch wiederkehrende Situationen erleben (z. B. Ankunft am Arbeits- und Bildungsort, Mahlzeiten, Arbeits- und Pausenzeiten)
  • Aktivitäten als Ankerpunkte für den Tag nutzen (z. B. nach dem Mittagessen beginnt die Kreativwerkstatt; wenn die Morgenbesprechung vorbei ist, kommt die Frühstückspause)
  • den Tagesrhythmus antizipieren (z. B. mit Hilfe von Gegenständen, die als Symbol für eine Handlung dienen, oder entsprechenden Fotos u.Ä.)
  • freie Zeiträume gestalten (z. B. Aktivitäten für die Pause)
  • erfahren, dass bestimmte Aktivitäten zu bestimmten Zeitpunkten geschehen (z. B. Mittagspause, Heimfahrt, Beginn der Arbeit, …)
  • sich an Uhrzeiten orientieren (z. B. immer um 12 Uhr beginnt die Mittagspause)
  • den Unterschied zwischen Arbeitstagen und dem Wochenende erleben (z. B. durch die veränderten Aktivitäten, Personen und Orte, durch rückblickende und vorausschauende Gespräche)
  • die zyklische Struktur der Woche erfahren (z. B. durch wiederkehrende Aktivitäten an den unterschiedlichen Wochentagen und deren Thematisierung im Rück- und Ausblick)
  • die Reihenfolge der Wochentage kennenlernen (z. B. anhand von Aktivitäten, Namen der Wochentage)
  • die Besonderheiten der unterschiedlichen Jahreszeiten erleben (z. B. unterschiedliche Temperaturen auf der Haut spüren, durch raschelndes Laub laufen)
  • die zyklische Jahresstruktur durch Jahreszeiten und Feste im Jahresverlauf erleben
  • am Ende des Jahres mit einem Jahrbuch auf vergangene Ereignisse zurückblicken (z. B. mit Fotos von Aktivitäten)
  • den Kalender kennenlernen und nutzen, um Zeitspannen zu verdeutlichen und Aktivitäten zu planen

Literatur

Hinz, A. (2000): Psychologie der Zeit. Umgang mit Zeit, Zeiterleben und Wohlbefinden. Münster: Waxmann.

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(weiterführende) MATERIALIEN

Berdelmann, K. (2010): Operieren mit Zeit. Empirie und Theorie von Zeitstrukturen in Lehr- Lernprozessen. Paderborn: Ferdinand Schöningh.
Breuer, A.; Schütz, A.; Weide, D. (2008): Zeit überbrücken, Zeit verlieren, Zeit verschwenden? – Zum Umgang mit Zeit in freien Lernsituationen. In: Zeitschrift für Grundschulforschung, 1 (1), S. 37-48.
Doose, St. (2020): „I want my dream!” Persönliche Zukunftsplanung. Neue Perspektiven und Methoden einer personenzentrierten Planung mit Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen. Aktualisierte, 11. Aufl. Neu-Ulm: AG SPAK Bücher.
Internationalen Fördervereins Basale Slimulation® e.V. (2012): Zeit geben und Zeit nehmen (Themenheft. Rundbrief Basale Stimulation, Ausgabe 20.
Matolycz, E. (2011): 100 Tipps für den Einzug neuer Bewohner in eine Pflegeeinrichtung. Hannover: Brigitte-Kunz-Verlag. Hier Kapitel: Die Orientierung, S. 51-58.
Rabenstein, K. (2020): Rhythmisierung. In: Bollweg, P.; Buchna, J.; Coelen, T.; Otto, H.-U. (Hg.): Handbuch Ganztagsbildung. 2. Auflage. Wiesbaden: Springer, S. 1023-1033.
Tenorth, H.-E. (2006): Zeit als Thema der Erziehungswissenschaft. Dissens der Codierungen, Desiderata der Thematisierung. In: Ruhloff, J.; Bellmann, J. (Hg.): Perspektiven Allgemeiner Pädagogik: Dietrich Benner zum 65. Geburtstag. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, S. 57 – 74.