KONKRETISIERUNG · Zeit visualisieren und erfahrbar machen *
Catherine Girke – GIB e.V.
SACHASPEKTE & POTENTIALE
Mit diesem Angebot kann Zeit durch Visualisierung bewusster verglichen und erfahren werden, so dass ein (vielleicht erstes) Verständnis für eine Zeitstruktur aufgebaut werden kann.
Zeit scheint für Menschen mit komplexen Behinderungen ein schwer greifbares und schwer vorstellbares Phänomen zu sein; sie ist ein Abstraktum, das kaum sinnlich erfahrbar ist. Da ein enger Zusammenhang von Zeitvorstellungen und Planungsmöglichkeiten (mit Fähigkeiten zum Planen, Entscheiden und Impulskontrolle) besteht, fühlen sich betroffene Menschen häufig ausgeliefert, wenig als Akteur, wenn beide Komponenten nicht oder nur wenig ausgebildet sind. Angebote und Wechsel im Alltag ereilen sie oft unvorhergesehen. So ist es für Menschen aus diesem Personenkreis oft schwierig vorherzusehen oder nachzuvollziehen, wann ein Angebot oder eine Wartezeit beginnt und beendet sein wird, was zu z.T. starken Unsicherheiten führt. Durch sinnvolle Visualisierung von Zeitabschnitten z.B. mit verschieden farbigen Sanduhren kann ein Gefühl für überschaubare Zeiträume angebahnt oder entwickelt und damit nachvollziehbare Struktur geschaffen und Sicherheit vermittelt werden.
Beobachtungen bestätigen, dass die Zunahme der Ausprägung einer Behinderung zu einer stärkeren Gegenwartsorientierung führt, was mit der Fähigkeit zu Bedürfnis- und Gratifikationsaufschub korrespondiert. Bei vorhandenem Zeitkonzept werden meist ebenso Sozialkompetenzen besser ausgebildet. Durch Förderung von Zeitverständnis kann also zur Entwicklung sozialer Kompetenzen beigetragen werden.
Farbenfrohe Sanduhren wecken das Interesse. Gerade für Beschäftigte, die kaum Zeitvorstellungen haben und an Zeitdauer-Uhren wie Time Timer wenig Interesse zeigen, könnte der Umgang mit Sand- oder Wasser-Uhren interessant sein, da sie nachvollziehbarer als Vorgenannte das Verrinnen von Zeit verdeutlichen. Die Sanduhren mit verschiedenen Zeitspannen sollten unterschiedliche Farben haben z.B. 1 (blau), 2 (grün) ,3 (rot), 5 (gelb), 10 (violett) und 15 Minuten (grau). Bei Einführung der Sanduhren bietet es sich an, zunächst eine kurze und eine längere Zeiteinheit zu verwenden, um einen deutlichen Unterschied in der Erfahrung der Zeitdauer zu ermöglichen. Diese sollten sich an Vorlieben und Möglichkeiten der Beschäftigten orientieren.
Insbesondere bei Beschäftigten mit zwanghaftem Verhalten kann die Nutzung von Sanduhren der Ausübung von Zwängen klare Strukturen entgegensetzen, so dass eine Tätigkeit ausgeführt wird, bis oder der nächste Toilettengang erst gestartet wird, wenn die Uhr durchgelaufen ist.
Bei Nutzung eines Tagesplans mit Symbolen können bestimmten Tätigkeiten Sanduhr-Symbole in den jeweiligen Farben zugeordnet werden. So kann bei regelmäßiger Anwendung zu einem Zeitgefühl gefunden werden, was durch Vergleich entsteht (im Sinn von „Die gelbe Sanduhr dauert länger als die blaue“) und den Tag für die Beschäftigten planbarer werden lässt.
Die Beschäftigten können beim Bereitstellen der passenden Sanduhr beteiligt werden. Ist die Person motorisch dazu in der Lage, kann sie durch Umdrehen der gewählten Uhr selbst den Startzeitpunkt bestimmen. Im Gespräch kann zusätzlich das Erkennen und Benennen von Farben geübt und gefestigt werden.
Beim Überbrücken von Wartezeiten können auch andere Visualisierungen von Zeit zum Einsatz kommen, die ein „Verrinnen“ der Zeit ebenso deutlich machen, aber durch einen höheren Ablenkungscharakter die Zeit schneller vergehen lassen (z.B. Flüssigkeitsuhren, dynamische Sandbilder s. Quellen & Literatur).
IMPULSFRAGEN
- Hat der/ die Beschäftigte bereits Vorstellungen von Zeit entwickelt?
- Ist eine Visualisierung sinnvoll oder sollten besser andere „Zeitanzeiger“ genutzt werden, die andere Sinne ansprechen? Sollten neben dem Sehsinn auch andere Sinne zur Zeitwahrnehmung angesprochen werden (z.B. Hörsinn)?
- Stehen verschiedene geeignete Hilfsmittel zur Visualisierung von Zeit zur Verfügung? Welche davon könnten sinnvoll eingesetzt werden? Welche müssen erst besorgt werden?
- Für welche Tätigkeiten bietet sich eine Visualisierung der Zeit an?
- Welche Zeitdauer(n) bieten sich zur Visualisierung an?
- Sind alle Betreuer über den Ansatz informiert und tragen die konkrete Umsetzung mit?
DIFFERENZIERUNG
Visuelle Wahrnehmung
- Situation so gestalten, dass die benutzte Sanduhr gut wahrgenommen werden kann (Größe der Sanduhr, klare Farben, Beleuchtung).
- Bei starker Sehbeeinträchtigung andere Formen zum Erfahrbar-Machen von Zeit entwickeln (z.B. Verklanglichung von Zeitintervallen durch Länge eines Musiktitels)
- Bei fehlender visueller Wahrnehmung ist dieses Angebot ungeeignet.
HANDLUNGSLEITENDE PRINZIPIEN
Selbstbestimmung und Mitbestimmung
- Bei zunehmender Ausbildung von Zeitvorstellungen und Planungsmöglichkeiten können die Beschäftigten mehr Einfluss auf Gestaltung des Tagesablaufes nehmen
- Beginn/ Start eines Angebots bestimmen durch Umdrehen der Uhr
- Wenn System verstanden (welche Uhr zeigt lange, welche kurze Zeit) selbst Intervalle auswählen für die Dauer eines Angebots
Adressierung als Erwachsene
- Gemeinsam zu Arbeitsaufgaben jeweilige Zeitdauer der gewünschten Bearbeitung besprechen
Kommunikation und Interaktion
- Verbindung von Symbolen für Tätigkeiten mit Symbolen für Sanduhr möglich, also Visualisierung von Arbeitsaufgaben mit deren Dauer verknüpfen
- Bei Verbindung der farbigen Sanduhren mit einem Tagesplan oder Besprechen der nötigen Dauer Anlass zu Kommunikation (entsprechend der Möglichkeiten verbal, gebärdenunterstützt, mit Symbolen)
Respektvolle Haltung und Achtsamkeit
- Bei Bewältigung einer Arbeitsaufgabe Bezug auf bereits erledigte Tätigkeiten nehmen
- Arbeits- und Pausenzeiten individuell an die Leistungsfähigkeit anpassen
Kompetenzerfahrung
- Durch farbenfrohe Sanduhren oder Wasseruhren wird ein Blickfang geboten, der zur Beschäftigung mit Zeit (konkret Wahrnehmung von Zeitspannen) einlädt
- selbständiger Wechsel zur nächsten Tätigkeit wird möglich, insbesondere bei zwanghaftem Verhalten wird der Beginn der nächsten/ folgenden Handlung planbar
- es kann zu einem Zeitgefühl durch Vergleich verschiedener Zeitspannen gefunden werden, was Abläufe berechenbarer werden lässt
THEMENBEZOGENES WORTFELD
Nomen
- die Arbeit
- die Pause
- die Sanduhr
- die Zeit
Verben
- abwarten
- arbeiten
- beginnen
- dauern
- durchlaufen
- rieseln
- verrinnen
- vergehen
Adjektive
- die Farben blau, gelb, grau, grün, lila, rot
- fertig
- kurz/ kürzer/ am kürzesten
- lang/ länger/ am längsten
Phrasen
- Danach
- Wann …?
- Wie lange …?
- Zeitspannen: eine Minute, zwei, drei, fünf, zehn, fünfzehn Minuten
- Zuerst
BEISPIELPLANUNG
Vorphase
- Bereitstellung der verschiedenen benötigten Sanduhren
- Möglicherweise Musiktitel entsprechend dem Musikgeschmack der Beschäftigten aussuchen, die sich aufgrund ihrer Dauer gut korrespondierend zu den Sanduhren verwenden lassen
- Bereitstellung notwendiger technischer Voraussetzungen (Abspielgerät, Box)
- Vorbereitung von Symbolkarten mit verschieden farbigen Sanduhren für die Verwendung am Tisch und am Tagesplan
Einstieg
Interesse am Thema wecken durch verschiedene mögliche Einstiege:
- Alle farbigen Sanduhren aufstellen, gemeinsam möglichst zeitgleich starten und so erste bewusste Erfahrungen mit verschieden langen Zeitspannen machen
- Es ist auch möglich, Zeitmessungen anzustellen. Zum Beispiel einen Musiktitel zeitgleich mit den Sanduhren starten und „abmessen“ welche Sanduhr dazu passt
- Gespräche über das Vergehen von Zeit anregen, über als lang oder kurz empfundene Zeitabschnitte
- Anschließend Erklärung der angestrebten Nutzung der Sanduhren im täglichen Arbeitsablauf mit Einführung von Bildkarten verschieden farbiger Sanduhren, die dem Tagesplan hinzugefügt werden können oder die zur Unterstützung der Auswahl der passenden Sanduhr benutzt werden können
Durchführung
Dieses Angebot kann für Gruppen, aber auch für Arbeitsphasen einzelner Beschäftigter genutzt werden. Bei Einzelangebot ist eine individuelle Abstimmung der Zeitspanne möglich.
Für eine auszuführende Tätigkeit wird der/ die Beschäftigte ermuntert, die passende Sanduhr auszuwählen und bereitzustellen. Das kann die Auswahl entsprechend der Kennzeichnung am Tagesplan sein. Bei schon längerer Anwendung der Sanduhren bei bereits ausgebildeter Vorstellung für längere und kürzere Zeitspannen kann der/ die Beschäftigte evtl. auch mit Beratung durch den Betreuer eine Uhr entsprechend seiner/ ihrer Tagesform auswählen.
Starten der Tätigkeit mit Umdrehen der gewählten Sanduhr (ggf. mit Unterstützung oder in stellvertretender Ausführung), Ende der Tätigkeit nach Durchlaufen des farbigen Sandes
Abschluss
Reflexion über erlebte Zeit anregen. Insbesondere bei Nutzung der Sanduhren für Gruppenangebote können Gespräche über unterschiedlich lang wahrgenommene Zeitspannen angeregt werden.
Wurde die vorangegangene Arbeits- bzw. Pausenzeit subjektiv als lang oder kurz empfunden? Welche Zeitspanne könnte für die nächste Umsetzung des gleichen Angebots gewählt werden: länger, kürzer oder gleich lang?
Sanduhr und Symbolkarten aufräumen
Quellen & Medien
Literatur
Radke, Peter (1998): „Zeit und Raum aus Sicht behinderter Menschen“ unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/beh2-98-sicht.html (abgerufen am 29.11.2021)
Wittmann, Marc (2016): Gefühlte Zeit. München.
weitere Quellen
„Zeit visualisieren“ unter: https://www.timetex.de/themenwelt-zeit-visualisieren (abgerufen am 29.11.2021)
„Orientierungsplan – Orientierung in der Zeit“ unter: https://qualitaetsoffensive-teilhabe.de/orientierungsplan/orientierung-in-der-zeit/ (abgerufen am 30.11.2021)
„Orientierung in der Zeit – Konkretisierung“ unter: https://qualitaetsoffensive-teilhabe.de/orientierungsplan/orientierung-in-der-zeit/fruehbesprechung/ (abgerufen am 30.11.2021)