Unterschiedliche Moralvorstellungen
Eine Gruppe des Arbeits- und Bildungsortes „Mittelstraße“ unternimmt regelmäßig kleine Ausflüge im Kiez. Ein beliebter Zwischenstopp ist die Eisdiele am Kreisverkehr, weil dort genügend Platz ist, um auch mit mehreren Rollstühlen einzukehren. Da es nun häufig sehr warm ist, sitzen die Beschäftigten oft dort und essen Eis oder Kuchen und trinken Kaffee. Die meisten von ihnen benötigen Unterstützung beim Verzehr, z. B. durch das Ansetzen der Tasse oder das Anreichen des Löffels. Man unterhält sich und genießt den Trubel des bis auf den letzten Platz gefüllten Cafés, es herrscht gute Laune.
Plötzlich fällt auf, dass die Besucher_innen an einem der Nebentische mit dem Kellner diskutieren und mehrfach auf die Gruppe zeigen. Nach einer längeren Auseinandersetzung stehen die Gäste auf und verlassen die Eisdiele. Es stellt sich heraus, dass sie sich an der Gruppe schwerstbehinderter Menschen störten und den Kellner um einen neuen Tisch baten, von dem aus sie die Gruppe nicht sehen müssten. Die Bedienung wollte auf eine solche Bitte nicht eingehen. Als die Gäste daraufhin einen Preisnachlass für ihre Bestellung forderten, verwies der Kellner sie des Cafés [2].
Hochumstrittenes Urteil
Sich mit Ethik zu beschäftigen heißt, nach den Bedingungen und Möglichkeiten eines sinnvollen, guten Lebens zu fragen. Ethik nimmt damit die Analyse unterschiedlicher Moralvorstellungen in den Blick. Mit Moral können Werte und Normen bezeichnet werden, die Handlungsgrundsätze darstellen. Situationen im Alltag, in denen wir mit anderen Personen zu tun haben, sind immer von moralischen Grundsätzen begleitet. Hierzu gehören beispielsweise auch Höflichkeitsformen, die Rücksichtnahme aufeinander usw. Im Umgang mit Menschen mit schwerer Behinderung ergibt sich aus der erhöhten Abhängigkeit vermehrt die Notwendigkeit, Handeln immer wieder zu reflektieren und sich mit den dahinterstehenden Wert- und Normvorstellungen zu beschäftigen.
Das Lebens- und Bildungsrecht behinderter Menschen, ihre Anerkennung, Teilhabe, Inklusion und Selbstbestimmung – all diese Themen sind verknüpft mit Vorstellungen von „richtig“, „gut“ oder „falsch“. Sie haben deshalb neben den konkreten fachlichen Anforderungen auch eine ethische Dimension [1].
Bioethik
In den 1980er Jahren gab es ein hochumstrittenes Urteil, bei dem es um einen ähnlichen Fall ging. Der Klägerin wurde vor Gericht ein Schadensersatz zugesprochen, weil ihr Urlaubsgenuss durch die Anwesenheit einer Gruppe schwerbehinderter Menschen „gestört“ worden war.
In diesen Beispielen geht es im Grunde um die ethische Frage, welcher Wert dem Leben von Menschen mit schwerer Behinderung zugeschrieben wird und ob sie als gleichwertig und würdevoll anerkannt werden.
Lebenswert und Lebensrecht
Eine der grundlegendsten ethischen Fragen ist wohl die nach dem Leben selbst, nach dem Recht auf Leben. Gerade im Hinblick auf Menschen mit Behinderung wurde über das Lebensrecht immer wieder diskutiert und dieses Recht in Frage gestellt oder sogar abgesprochen. Aktuell wird im Rahmen der sogenannten Bioethik über Fragen diskutiert, die sich am Beginn und am Ende eines Lebens stellen können: Das kann die Entscheidung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch nach vorgeburtlicher Diagnostik sein oder die Entscheidung für oder gegen therapeutische und lebenserhaltende Maßnahmen am Ende eines Lebens.
Spätabtreibungen
Im Folgenden werden exemplarisch die Themen Lebenswert und Lebensrecht vorgestellt, da sie einen existentiellen Widerspruch im Wertfundament öffentlich anerkannter Positionen verdeutlichen: Dass Menschen mit schwerer Behinderung leben, ist angesichts der modernen medizinischen Möglichkeiten, wie pränataler Diagnostik oder Präimplantationsdiagnostik, nicht selbstverständlich. So wirbt bspw. eine Reproduktionsklinik auf ihrer Webseite mit einer Technik, „die eine Untersuchung der DNA der Eizellen oder der Embryonen […] ermöglicht, um diejenigen mit den gewünschten genetischen Merkmalen auszuwählen“. [3] Hier wird also der Vorteil einer möglichen Selektion beliebiger biologischer Eigenschaften hervorgehoben. Dazu gehört z. B. auch die Feststellung des Vorliegens einer Trisomie 21 („Down-Syndrom“) bei einem ungeborenen Kind. Gleichzeitig stellt aber die gesellschaftliche Inklusion behinderter Menschen unter dem Motto „Es ist normal verschieden zu sein“ ein weithin anerkanntes Ziel gesellschaftlichen Engagements dar.
Pränataldiagnostik
Konkret bricht sich der Wunsch nach einer „Welt ohne Leiden“ an der Gewährung des Lebensrechtes behinderter Kinder. Wenn verschiedene Beeinträchtigungen vorgeburtlich festgestellt und durch eine Spätabtreibung des Fötus verhindert werden können, kann eine (angeborene) Behinderung in der Konsequenz als „vermeidbarer Irrtum“ gesehen werden. So erkennt die deutsche Gesetzgebung zwar zum einen die allgemeine Menschenwürde an, setzt aber zum anderen hinsichtlich des Abbruchs einer Schwangerschaft keine zeitliche Begrenzung, sofern dadurch eine Gefährdung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abwendbar ist [4]. Das heißt, ein Fötus mit Behinderung kann gegebenenfalls bis zum Zeitpunkt der Geburt legal abgetrieben werden, wenn dadurch die seelische Gesundheit der Mutter gewahrt werden kann. Die Grundlage dieser Logik ist die Vorstellung, ein Leben mit einem Kind mit Behinderung wäre für die Mutter weniger erstrebenswert und das Leben des Kindes weniger lebenswert.
Lebenswert
Dass die technischen Möglichkeiten das tatsächliche Verhalten werdender Eltern und die Lebenschancen behinderter Menschen beeinflussen, zeigt der Umstand, dass die vorgeburtliche Diagnose des Down-Syndroms in über 90 % zu einem Abbruch der Schwangerschaft führt [5]. Dies weist darauf hin, dass ungeborenen Kindern mit Down-Syndrom ein geringerer Lebenswert zugesprochen wird als Kindern ohne Behinderung. Zudem berichten Mütter von Kindern mit Down-Syndrom in einer Studie, sie seien bereits mit dem Vorwurf konfrontiert worden, die Geburt ihres Kindes hätte verhindert werden können [6]. Sowohl Menschen mit Behinderung als auch deren Familien stehen damit unter dem Druck, sich für behindertes Leben zu rechtfertigen [7].
Gleichzeitig dienen aber Menschen mit Down-Syndrom an anderer Stelle als sympathische Botschafter für eine inklusive Gesellschaft. Diese Fragen führen also zu unterschiedlichen Haltungen – je nach Abwägung der verschiedenen Argumente und Erfahrungen werden voneinander abweichende ethische Werte vertreten.
Es gibt bspw. zahlreiche Ansätze, die herleiten, wie der Wert eines Menschenlebens bestimmt werden kann. So leiten einige Theorien das Menschsein von kognitiven Strukturen und Funktionen ab, z. B. der Fähigkeit, sich seiner selbst bewusst zu sein. Sie verknüpfen also die Schwere einer Beeinträchtigung mit dem Lebenswert einer Person [8]. Gerade angesichts solcher Vorstellungen, die versuchen, das Menschsein an Fähigkeiten festzumachen, werden Menschen mit schwerer Behinderung als „Extremfall des Menschseins“ zu einem „Prüfstein“ (→ Theoretische Grundlagen: Menschenbilder) [9]. Konkret werfen solche Konzepte die Frage auf, ob auch Menschen mit schwerer Behinderung tatsächlich als Menschen zu sehen sind und ob ihnen in der Folge menschliche Rechte zustehen. Die Auffassung von Mindestkriterien für menschliches Leben, wie immer diese auch definiert sind, ist damit von zentraler Bedeutung für die Zu- bzw. Aberkennung von Rechten – allem voran dem Lebensrecht. Je nachdem, welche Antworten auf die Frage: „Wer darf leben?“ zugelassen werden, wird allen Menschen ausnahmslos das Lebensrecht und ihre Menschenwürde anerkannt – oder nicht [10].
Die Behindertenhilfe sollte daher zu diesen Themen Stellung beziehen: Sie kann nur dann das Recht auf Bildung und Teilhabe für Menschen mit Behinderung glaubwürdig einfordern, wenn sie das Lebensrecht des Personenkreises vorbehaltlos anerkennt.
- Das Lebensrecht schwer behinderter Menschen wird durch technische Möglichkeiten und den Wunsch nach menschlicher Perfektion in Frage gestellt. Gleichzeitig wird die öffentliche Debatte auch durch eine Anerkennung der Vielfalt menschlichen Lebens geprägt, denn „[j]eder Mensch ist in seiner individuellen Lebenssituation ein Teil der Menschheit“. [11]
- Menschen mit schwerer Behinderung muss durch Mitarbeiter_innen an Arbeits- und Bildungsorten die unbedingte Achtung ihres Lebensrechtes zukommen. Ihr Lebenswert bedarf keiner Prüfung von Fähigkeiten [12].
Welche Bedeutung haben ethische Fragen für die Arbeit mit Menschen mit schwerer Behinderung?
Konfrontation
Was hat nun all das mit der Arbeit mit Menschen mit schwerer Behinderung zu tun? Sehr viel! Denn wie soll man „in einer Zeit, die sich anschickt, das Wunschkind durch pränatale Diagnostik Wirklichkeit werden zu lassen, noch Verständnis für Abweichungen von diesem Ideal wecken“ [13]? So sind die Aufwertung der genetischen Perfektionierung des Menschen und die Abwertung behinderten Lebens als zwei Seiten derselben Medaille zu sehen. Das bedeutet, dass die Arbeit im Feld der Behindertenhilfe tagtäglich eine Konfrontation mit ethischen Fragen darstellt.
Normen und Ideale der Mitarbeiter_innen
Viele Aspekte der Begleitung schwer behinderter Menschen berühren auch eine ethische Dimension: Die Angebote, die Arbeits- und Bildungsorte vorhalten, sollen das Recht auf Teilhabe einlösen. Wenn die dort gestalteten Angebote „zum Wohle“ der dort beschäftigten Menschen beitragen sollen, stellt sich schnell die Frage, woran sich dieses „Wohl“ denn orientiert und welcher Art die Maßstäbe für eine gute Betreuung und Förderung sein können [14]. Dies beginnt bei einfach scheinenden Fragen, wie der Wahl des Essens der Beschäftigten, das Mitarbeiter_innen auf Grundlage ihrer persönlichen Überzeugungen anbieten, und führt zu grundlegenden Fragen, wie der Entscheidung, wo ein Mensch betreut wird oder ob eine Person überhaupt als behindert zu betrachten ist und ihr damit eine institutionelle Förderung geboten werden soll oder nicht. Im Arbeitsbereich ist z. B. die Bewertung von Leistungsbereitschaft, Ausdauer oder Fleiß, aber auch die Frage, welche Aufgaben als interessant oder langweilig betrachtet werden, von der Haltung der Mitarbeiter_innen abhängig. Die Normen und Ideale der Mitarbeiter_innen beeinflussen also die Lebensgestaltung der Beschäftigten in hohem Maße [15].
Machtposition
Die Mitarbeiter_innen der Behindertenhilfe haben aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausgangslagen und Rollen auch eine Machtposition gegenüber Menschen mit schwerer Behinderung und ihren Angehörigen inne, die immer wieder begründet werden sollte [16] . Als schwerwiegende Fehlentwicklungen solcher Machtbeziehungen können die Beispiele von Gewalt gegen Menschen mit Behinderung in Einrichtungen gelten.
Wirtschaftliche Logik
Darüber hinaus muss die Begleitung von Menschen mit schwerer Behinderung zum Teil auch mit einer wirtschaftlichen Logik begründet werden. So könnte die Frage aufkommen, ob sich der (finanzielle) Aufwand für die professionelle Förderung und Pflege überhaupt „lohnt“, wenn doch bestimmte Personengruppen keinen nennenswerten Beitrag zum Bruttosozialprodukt erwirtschaften. Eine solche wirtschaftliche Logik wird durch eine Kosten-Nutzen-Rechnung geprägt, der zufolge der Marktwert eines Menschen auch seinen Lebenswert bestimmt [17]. Arbeits- und Bildungsorte für Menschen mit schwerer Behinderung stellen einen Raum dar, der seine Berechtigung jenseits dieser Nützlichkeitslogik vertreten und erklären können sollte.
Politischer Exkurs
Nicht zuletzt zeigt der Blick in die Vergangenheit, dass die Vorstellung, behinderte Menschen von ihrem „Leid“ bzw. die Gesellschaft von „behinderten Menschen“ erlösen zu wollen, eine lange Geschichte hat. Sie wurde Wirklichkeit in dem sogenannten rassenhygienischen Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten, dem mindestens 150.000 Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung zum Opfer fielen [18]. Besonders schwer wiegt, dass diese Vernichtungspraxis deshalb möglich wurde, weil viele Mitarbeiter_innen in Einrichtungen sich nicht gegen sie stellten. Aus dieser Erfahrung heraus ist es notwendig, allgemeine Entwicklungen, die den Lebenswert und das Lebensrecht von Menschen mit schwerer Behinderung betreffen können, kritisch zu verfolgen und zu diesen Stellung zu beziehen. Ein aktuelles Beispiel dafür bildet der Aufruf „Es geht uns alle an: Wachsam sein für Menschlichkeit“, der von zahlreichen Sozialverbänden unterschrieben wurde, gegen eine Anfrage der AFD im Bundestag, die einen Zusammenhang zwischen Inzucht, Migration und Behinderung suggeriert [19].
Erlass von Hitler – Nürnberger Dokument PS-630 – datiert 1. September 1939 ©
Welche Chancen und Herausforderungen ergeben sich daraus?
Die Chancen, die sich aus der Beschäftigung mit diesen Themen ergeben, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
Fundament alltäglicher Entscheidungen
- Ethische Fragen bilden das Fundament, auf dem alltägliche Entscheidungen an Arbeits- und Bildungsorten getroffen werden können. Eine gut begründete Haltung zu verschiedenen ethischen Fragen kann Mitarbeiter_innen helfen, in schwierigen Situationen handlungsfähig zu sein und ihre Tätigkeiten zu begründen.
Wertebasis
- Eine feste Wertebasis schafft Handlungssicherheit und entlastet damit die einzelnen Mitarbeiter_innen. Als Hintergrundwissen kann diese eine Orientierung bieten und helfen, selbständige, reflektierte Entscheidungen im pädagogischen Alltag zu treffen [20]. Hierzu gehört neben schwierigen Krisen auch der Umgang mit wiederkehrenden Situationen, wie die Balance zwischen Nähe und Distanz in einer pädagogischen Beziehung. Damit können emotionale Belastungen der Mitarbeiter_innen, wie Überforderungen und Ohnmachtsgefühle, verringert werden [21].
Geteilte Werteorientierung
- Die Beschäftigten sind in hohem Maße auf die Unterstützungsleistungen durch die Mitarbeiter_innen angewiesen. Eine geteilte Werteorientierung der Mitarbeiter_innen schafft eine konzeptionelle Kontinuität der Angebote und verringert die Beliebigkeit, mit der Entscheidungen getroffen werden.
Stellvertreter_innen
- Menschen mit schwerer Behinderung können für ihr Lebensrecht oft nicht selbst eintreten. Sie benötigen Fürsprecher_innen, die sich dafür einsetzen, dass ihr Lebensrecht nicht in Frage gestellt wird. Mitarbeiter_innen der Behindertenhilfe können somit die Selbstvertreter_innen (Menschen mit Behinderung) in dem Eintreten für ihre Rechte unterstützen. Sie können dabei ihre Stimme in der allgemeinen öffentlichen Debatte stärken und Menschen mit schwerer Behinderung und ihre Angehörigen dabei unterstützen, Gehör für ihre Anliegen zu finden.
Als Herausforderung hinsichtlich der Auseinandersetzung mit ethischen Fragen können folgende Aspekte gelten:
Eigene moralische Regeln und Ziele
- Bis in das späte Mittelalter bot die christliche Lehre klare Handlungsempfehlungen für alltägliche Entscheidungen und lieferte damit für Menschen in allen gesellschaftlichen Schichten ein „umfassendes Richtigkeitserlebnis“ [22]. Heute gibt es keine allgemein verbindlichen Positionen mehr, wie sie in der religiösen Wertelehre formuliert sind. Sofern man sich solchen „traditionellen“ Denkmustern nicht verpflichtet fühlt, kann jede Person selbst wählen, an welchen moralischen Regeln und Zielen sie ihr Handeln ausrichtet und begründet. Dies ist mit einem erhöhten persönlichen Aufwand bei der Suche nach eigenen Antworten auf ethische Fragen verbunden.
Einheitliche Wertebasis
- Dieses Nebeneinander verschiedener Überzeugungen kann auch dazu führen, dass innerhalb einer Einrichtung unterschiedliche Auffassungen zu grundlegenden Themen herrschen. Um entlang gemeinsamer Leitlinien handeln zu können, sollte eine einheitliche Wertebasis geschaffen werden [23].
Was ist notwendig, um ethische Fragen in der Arbeit mit Menschen mit schwerer Behinderung berücksichtigen zu können?
Leitbild der Einrichtung
- Ethische Grundannahmen sind, wie Menschenbilder, nicht einfach sichtbar, sondern zeigen sich indirekt im Verhalten oder in der Konfrontation mit ethischen Dilemma-Situationen (s. einführendes Beispiel). Einer Auseinandersetzung mit ethischen Fragen geht daher voraus, dass die Mitarbeiter_innen die Möglichkeit haben, sich ihrer eigenen Wertvorstellungen bewusst zu werden. Hilfreich kann es sein, wenn die Einrichtung in ihrem Leitbild Positionen formuliert, die als notwendig für eine Tätigkeit definiert werden.
Teamtreffen
- Ethische Aspekte sollten auf den regelmäßigen Teamtreffen als Teil der pädagogischen Arbeit Berücksichtigung finden und gemeinsam erörtert werden. Arbeitsbesprechungen sollten neben den alltäglichen Themen auch solche Fragen ansprechen, die auf eine übergeordnete Ebene verweisen und eher indirekt das Handeln der Mitarbeiter_innen beeinflussen. Das Wissen hierfür kann über Fortbildungen oder z. B. die gemeinsame Aufbereitung einschlägiger Presseartikel geschehen.
Außerinstitutioneller Austausch
- Um eine breite Diskussion über verschiedene ethische Themen zu ermöglichen, ist es wichtig, sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, also mit Menschen in Kontakt zu kommen, die nicht an Arbeits- und Bildungsorten arbeiten oder beschäftigt sind. Einen Rahmen für einen solchen Austausch können integrative oder inklusive Angebote bzw. sozialraumorientierte Projekte schaffen.
Ethische Fragen in der Erwachsenenbildung
- Das Bearbeiten ethischer Fragen betrifft selbstverständlich nicht nur die Mitarbeiter_innen, sondern auch die Beschäftigten. Mittlerweile stehen zahlreiche Arbeitsmaterialien zu Verfügung, die auch Menschen mit verschiedenen Behinderungen einen Zugang zu diesen Fragen ermöglichen und im Rahmen der Erwachsenenbildung genutzt werden können (wie z. B. die Seite des t4-Denkmals in Leichter Sprache und in DGS [24] oder das Online-Handbuch „Inklusion als Menschenrecht“ des Deutschen Instituts für Menschenrechte [25]).
Quellen
[1] vgl. Moser & Horster 2011, S. 16 [2] Fiktives Fallbeispiel, das sich am sog. Frankfurter Urteil von 1980 orientiert. Der Klage einer Urlauberin, die sich über den Anblick einer Gruppe Behinderter beschwert hatte, war durch das Frankfurter Gericht stattgegeben worden (n. Trus 1995, S. 206). Im Ergebnis der Klage musste der Reiseveranstalter 50 % der Reisekosten rückerstatten. [3] https://www.klinikeugin.de/behandlungen/ivf/pgs/ (17.08.2017) [4] Dies gilt, wenn eine medizinische Indikation vorliegt, also „wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden“ (§ 218a StGB) [5] vgl. Mansfield; Hopfer & Marteau 1997 n. Lenhard 2004, S. 9 [6] vgl. Lenhard et al. 2005, S. 108 [7] „Nicht mehr die Tötung, sondern das Weiterleben würde zur rechtfertigungsbedürftigen Ausnahme.“ (Antor 1991, S. 75). [8] vgl. hierzu die Debatte zum Philosophen Singer, u. a. in Dederich 2017 [9] Jakobs 2001 n. Dederich 2006, S. 549 [10] vgl. Dederich 2006, S. 551 [11] Fröhlich 2012, S. 12 [12] vgl. Speck 2008. S. 160 f. [13] Antor 1991, S. 73 [14] vgl. Bohlken 2011, S. 59 [15] vgl. Pörtner 2015 n. Becker 2016, S. 254 [16] vgl. Antor & Bleidick 2000, S. 105 [17] vgl. Speck 2003, S. 150 ff. [18] vgl. Trus 1995, S. 8 [19] vgl. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-04/alternative-fuer-deutschland-kleine-anfrage-bundestag-behinderte-kritik (29.10.2018) und https://www.dbsv.org/aktuell/anzeige-wachsam-sein.html (29.10.2018) [20] Moser & Horster 2011, S. 18 f. [21] vgl. Zeller 2016, S. 25 [22] Moser & Horster 2011, S. 19 [23] vgl. Zeller 2016 [24] https://www.t4-denkmal.de/deu (29.10.2018) [25] https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsbildung/bildungsmaterialien/online-handbuch-inklusion-als-menschenrecht/ (29.10.2018)
Literatur
Literatur
Antor, G. (1991): Ethische Fragen in der pädagogischen Förderung schwerstbehinderter Menschen In: Fröhlich, A. (Hg.): Handbuch der Sonderpädagogik – Pädagogik bei schwerster Behinderung. Berlin: Edition Marhold, S. 70–88.
Antor, G. & Bleidick, U. (2000): Behindertenpädagogik als angewandte Ethik. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer.
Becker, H. (2016): … inklusive Arbeit! Das Recht auf Teilhabe an der Arbeitswelt auch für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.
Bohlken, E. (2011): Anthropologische Grundlagen einer Ethik der Behindertenpädagogik. In: Moser, V. & Horster, D. (Hg.): Ethik der Behindertenpädagogik. Menschenrechte, Menschenwürde, Behinderung. Eine Grundlegung. Stuttgart: Kohlhammer, S. 59–74.
Dederich, M. (2006): Geistige Behinderung – Menschenbild, Anthropologie und Ethik. In: Wüllenweber, E.; Theunissen, G. & Mühl, H. (Hg.): Pädagogik bei geistigen Behinderungen. Ein Handbuch für Studium und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer, S. 542–557.
Dederich, M. (2016): Ethik. In: Dederich, M.; Beck, I.; Antor, G. & Bleidick, U. (Hg.): Handlexikon der Behindertenpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer, S. 315–319.
Fröhlich, A. (2012): Basale Stimulation. Ein Konzept für die Arbeit mit schwer beeinträchtigten Menschen. Düsseldorf: Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen.
Frost, A. (2012): Berufsethik in der Sozialpädagogik. Köln: Bildungsverlag EINS.
Lenhard, W. (2004): Die psychosoziale Stellung von Eltern behinderter Kinder im Zeitalter der Pränataldiagnostik. [Zugriff am 03.12.2022]
Schadwinkel, A. (02.08.2017): Crispr – Das genmanipulierte Baby wird Realität. [Zugriff am 03.12.2022]
Speck, O. (2012): Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Lehrbuch zur Erziehung und Bildung. München: Ernst Reinhardt Verlag, hier vor allem S. 38–99.
Speck, O. (2008): System Heilpädagogik. Eine ökologisch reflexive Grundlegung. München, Basel: Ernst Reinhardt Verlag.
Trus, A. (1995): „… vom Leid erlösen“ – Zur Geschichte der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen. Texte und Materialien für Unterricht und Studium. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag.
Zeller, G. (2016): Ethische Frage im Berufsalltag – was nun? Reflexionsrahmen zur Lösung ethischer Konflikte in der Sozialpädagogik. [Zugriff am 03.12.2022]
siehe auch
Impulsfragen & Reflexionsübungen
Impulsfragen
- Wie reagieren Sie auf abwertende Reaktionen von Passant_innen gegenüber Menschen mit schwerer Behinderung?
- Welche ethischen Fragen stellen sich Ihnen in täglichen Arbeit?
- Gibt es Ausschlusskriterien für die Aufnahme von Personen in ihre Einrichtung? Wenn ja, welche?
- Welche Maßnahmen gibt es in der Einrichtung, um Gewalt gegen Menschen mit Behinderung zu verhindern?
- Wie wird in den Medien über Menschen mit Behinderung berichtet?
Aufgabe 1: Bewerten eines Urteils
1980 wurde einer Klägerin von einem Gericht ein Schadenersatz zugesprochen, nachdem sie sich im Urlaub u.a. von Menschen mit schwerer Behinderung gestört fühlte.
„Es ist nicht zu verkennen, dass eine Gruppe von Schwerbehinderten bei empfindsamen Menschen eine Beeinträchtigung des Urlaubsgenusses darstellen kann. Dies gilt jedenfalls, wenn es sich um verunstaltete geistesgestörte Menschen handelt, die keiner Sprache mächtig sind, von denen einer oder der andere in unregelmäßigem Rhythmus unartikulierte Schreie ausstößt und gelegentlich Tobsuchtsanfälle bekommt. So wünschenswert die Integration von Schwerbehinderten in das normale tägliche Leben ist, kann sie durch einen Reiseveranstalter gegenüber seinen anderen Kunden sicher nicht erzwungen werden. Dass es Leid auf der Welt gibt, ist nicht zu ändern; aber es kann der Klägerin nicht verwehrt werden, wenn sie es jedenfalls während des Urlaubs nicht sehen will.“ (Der Spiegel 42/1980, S. 42)
- Wie begründet der Richter das Urteil?
- Kommentieren Sie das Urteil.
o.A. (1980): Genuß beeinträchtigt. In: Der Spiegel (42).
Aufgabe 2: Grundrechte
„Ein schwer behinderter Mensch kann seine aus den Grundrechten sich ergebenden Ansprüche auf Achtung seiner Freiheit und Würde nicht selbst durchsetzen. Er ist auf die anderen angewiesen. (Speck 2008, S. 158)
- Finden Sie Beispiele in Ihrem Alltag an Arbeits- und Beschäftigungsorten dafür, wie die Freiheit und Würde der von Ihnen begleiteten Menschen gesichert und gewahrt wird.
- Welche Gefahren birgt der Anspruch, Menschen mit schwerer Behinderung zu vertreten? Sehen Sie auch negative Aspekte dieser Fürsprache?
Speck, Otto (2008): System Heilpädagogik. Eine ökologisch reflexive Grundlegung. München: Ernst Reinhardt.
Webseiten
Filme & Tondokumente