Der Weg ist das Ziel

KONKRETISIERUNG  ·  Der Weg ist das Ziel

 

SACHASPEKTE UND POTENZIAL

„Ortsveränderung bedeutet in gewisser Weise immer auch, Vergangenheit zu schaffen. Die Gleichförmigkeit ohne Unterscheidung von Ort und Zeit ist das charakteristische Merkmal einer verminderten Lebensqualität.“ (Radtke 1998, o. S.)

Die Orientierung im Raum ist sowohl im mittelbaren als auch im unmittelbaren Umfeld des Arbeits- und Bildungsortes bedeutsam. Insbesondere Ausflüge in die Umgebung bieten dabei Anlässe, sich in vielfältigen, auch unbekannten Räumen zu orientieren. Hierzu gehört auch die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Durch Ausflüge können sich die Beschäftigten ihre Lebensumwelt so immer weiter erschließen.

Ausflüge bieten dabei verschiedenste Anlässe, sich auf den Wegen zwischen unterschiedlichen Orten, aber auch in unbekannten Gebäuden zu orientieren.

Auch für Beschäftigte, die im Rollstuhl sitzen und sich nicht selbstständig fortbewegen können, bietet ein solcher Ausflug vielfältige Möglichkeiten. Bereits durch die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln werden viele Sinne gleichzeitig angesprochen. Die taktile Wahrnehmung wird durch die Bewegung des Verkehrsmittels besonders stimuliert. Außerdem können z. B. Beschleunigung und Abbremsen, verschiedene Geschwindigkeiten und Bewegungsrichtungen mit dem eigenen Körper erfahren werden. Gleichzeitig verändern sich mit der Umgebung auch die Geräusche und visuellen Eindrücke. Hierdurch wird der Ausflug zu einem Erlebnis, das viele Sinne anspricht.

Schon bei der Planung des Ausflugs können die Beschäftigten mit einbezogen werden. Sowohl bei der Wahl des Ausflugsziels als auch bei der Planung des Weges können sie unterschiedliche Aufgaben mit übernehmen. Hierzu gehören zum Beispiel das Heraussuchen von Verkehrsmitteln, die genutzt werden sollen, oder das Packen von Taschen und Rucksäcken für den Tag.

Damit die Beschäftigten sich auch in einer fremden Umgebung gut orientieren können, sollten ihnen Fotos von Orientierungspunkten und/oder Navigationssysteme auf Handy oder Tablet zur Verfügung gestellt werden. Auch die Sprachausgabe von Navigationsgeräten mit einer direkten Wegbeschreibung können hier genutzt werden. Beschäftigte, die sich nicht selbstständig im Rollstuhl fortbewegen, sollten die Möglichkeit erhalten, die neue Umgebung auf vielfältige Weise zu erfahren. So kann für den einen Beschäftigten ein großes Haus einen hilfreichen Bezugspunkt darstellen, um sich zu orientieren, während für eine andere Beschäftigte das Fühlen des Zaunes, der vor diesem Haus steht, ein Orientierungspunkt ist. Insbesondere, wenn Ziele häufiger aufgesucht werden sollen oder sich etwas besonders Interessantes auf dem Weg befindet, können Orientierungspunkte auf diese Weise allen Beschäftigten zugänglich gemacht werden. Innerhalb von Gebäuden oder an öffentlichen Plätzen können sich die Beschäftigten auch mit Hilfe von Piktogrammen und Wegweisern orientieren.

Das Festigen von Verkehrsregeln und ein sicheres Verhalten im Straßenverkehr können fortlaufend in realen Verkehrssituationen geübt werden.

IMPULSFRAGEN

Welche Wege innerhalb und außerhalb der Werkstatt bewältigen die Beschäftigten bereits alleine?

Welche Möglichkeiten der Orientierung sind den Beschäftigten bekannt (z. B. Karten, Navi)?

Welche öffentlichen Verkehrsmittel werden von den Beschäftigten genutzt?

Welche interessanten Ziele sind in der Umgebung zu erreichen?

DIFFERENZIERUNG
  • regelmäßige Positionswechsel anbieten, um das Körpergefühl zu stärken und ein Gefühl für die Raumlage zu vermitteln (z. B. den Raum sitzend, stehend, liegend erfahren lassen)
  • körpereigene Orientierungshilfen unterstützen (z. B. farbige Punkte auf die Hände machen, um rechts und links unterscheiden zu können)

Verminderte Wahrnehmung

  • starke Reize nutzen, um die Ortsveränderung spürbar werden zu lassen (z. B. holpriger Untergrund)

Überempfindlichkeit

  • Unebenheiten vermeiden und ggf. abfedern (z. B. durch Kippen des Rollstuhls)
  • ggf. Handstütze anbieten oder Rollstuhl nutzen, wenn Gangunsicherheit auf unebenem Gelände besteht
  • sicherstellen, dass benötigte Sehhilfen getragen werden
  • den Einsatz von Hilfsmitteln im Straßenverkehr üben (z. B. Langstock)
  • auf Orientierungshilfen im Straßenverkehr hinweisen (z. B. akustisches Signal der Ampel, Ansage der Linie und Fahrtrichtung in öffentlichen Verkehrsmitteln)
  • gut sichtbare Orientierungspunkte wählen (z. B. besonders große Häuser, taktile Orientierungspunkte wie eine Veränderung des Untergrundes)
  • Blickbewegungen gezielt üben, die ein sicheres Fortbewegen im Straßenverkehr ermöglichen (um z. B. Gesichtsfeldausfälle zu kompensieren)
  • regelmäßige Teilnahme an Verkehrssituationen, um Erfahrungswerte für das Abschätzen von Entfernungen zu schaffen

Verminderte Wahrnehmung

  • Blickrichtungen in Verkehrssituationen üben (z. B. schauen, ob die Kreuzung frei ist, ob eine Straßenbahn kommt)
  • visuelle Kommunikationswege bei hoher Umgebungslautstärke nutzen (z. B. Gesten, ggf. Gebärden)
  • die Lokalisation von Geräuschquellen im Straßenverkehr trainieren (z. B. durch Hören an Straßenkreuzungen, ob und aus welcher Richtung sich ein Fahrzeug nähert)
  • unterschiedliche Geräusche im Straßenverkehr wahrnehmen und (mit Unterstützung) zuordnen (z. B. Auto, Straßenbahn, Zug)

Überempfindlichkeit

  • bevorstehende laute Geräusche ankündigen (z. B. eine herannahende Straßenbahn)
  • Gehörschutz anbieten
  • langsames Herantasten an die Lautstärke (z. B. zunächst einen Aufenthalt auf dem Bahnhof meiden)
HANDLUNGSLEITENDE PRINZIPIEN
  • Vorschläge der Beschäftigten im Hinblick auf Ausflugsziele aufgreifen
  • unterschiedliche Ausflugsziele vorstellen, um die Beschäftigten eine Entscheidung treffen zu lassen (z. B. mit Hilfe von Fotos, Infoflyern, Videos)
  • Möglichkeiten der Mitbestimmung bezüglich der Ausflugsdauer schaffen (z. B. Sollen wir zum Mittagessen zurück sein oder lieber unterwegs essen und dafür länger am Zielort bleiben?)
  • weitgehend eigenständige Erkundung von Räumen ermöglichen, dabei auch Räume einbeziehen, die den Beschäftigten ansonsten nicht immer zugänglich sind (z. B. Küche, Büroräume etc.)
  • bereits bekannte Ausflugsziele der Beschäftigten aufgreifen und ggf. erneut besuchen
  • auf eine altersgemäße (An-)Sprache während des Ausflugs achten
  • falls möglich während des Ausflugs Freiräume schaffen, in denen sich Beschäftigte eigenständig von der Gruppe entfernen dürfen (z. B. selbst durch das Museum laufen, in einem Laden eigene Besorgungen erledigen)
  • in kommunikativem Kontakt bleiben (z. B. ankündigen, was als Nächstes passieren wird)
  • (herausfordernde) Ausdrucksweisen der Beschäftigten z. B. während der Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln aufgreifen und beantworten (z. B.: „Ich sehe, dass Sie die Fahrt anstrengend finden. Es dauert nicht mehr lange.“)
  • bekannte nonverbale Kommunikationsmittel einsetzen, um die Kommunikation auch bei hoher Umgebungslautstärke aufrechtzuerhalten (z. B. Gebärden, Piktogramme)
  • vor Beginn des Ausflugs die Zuständigkeiten der einzelnen Mitarbeiter_innen klären (z. B. Hilfe beim Ein- und Aussteigen, Verhalten bei Notfällen, Zuständigkeiten während des Essens und bei Toilettengängen)
  • auch in hektischen Situationen (z. B. im vollen Bus), die Bedürfnisse der Beschäftigten beachten (z. B. ruhig zureden, wenn Beschäftigte die Situation als beängstigend erleben)
  • Unterstützung anbieten, wenn sie nötig ist (z. B. beim Ein- und Aussteigen)
  • Entlastungsmöglichkeiten für die Beschäftigten schaffen (z. B. ruhigere Räume aufsuchen, entlastende Sitzpositionen für Beschäftigte im Rollstuhl anbieten, Sitzmöglichkeiten für mobilitätseingeschränkte Personen aufsuchen)
  • im Hinblick auf die Gruppengröße abwägen, inwieweit bereits öffentliche Verkehrsmittel genutzt werden können oder ob auf Fahrzeuge der Einrichtung zurückgegriffen werden sollte
  • den Beschäftigten auf dem Weg den Vortritt lassen (z. B. wenn Beschäftigte den Weg bereits kennen)
  • Zeit für die Orientierung einräumen und erst bei Bedarf Hilfestellung geben
THEMENBEZOGENES WORTFELD
  • der Bus
  • die Straßenbahn
  • die Haltestelle
  • die U-Bahn
  • die Karte
  • der Weg
  • das Haus
  • die Straße
  • die Ampel
  • der Pfeil
  • die Richtung
  • gehen
  • laufen
  • fahren
  • unterwegs sein
  • warten
  • abbiegen
  • steil
  • bergig
  • viel
  • gefährlich
  • rot
  • grün
  • hoch
  • rechts
  • links
  • unterwegs
  • dorthin
  • draußen
  • hierher
  • dorthin
  • vorwärts
  • rückwärts
  • oben
  • unten
  • geradeaus
  • Stopp!
  • Komm!
  • Warte!
  • Wir müssen hier lang.
  • Wir müssen hier abbiegen.
BEISPIELPLANUNG

Gemeinsam mit den Beschäftigten wird ein Ausflugsziel ausgesucht. Hierfür werden zunächst Ideen der Beschäftigten gesammelt. Damit sich alle Beschäftigten ein Bild der Möglichkeiten machen können, werden Informationen zu den Ausflugszielen eingeholt (z. B. über Flyer, Internetseiten, Videos). Die Beschäftigten stimmen gemeinsam ab, wohin der Ausflug gehen soll. Bei Beschäftigten, die an dieser Abstimmung auf Grund ihrer kommunikativen und kognitiven Fähigkeiten nicht teilnehmen können, wird gemeinsam überlegt, woran sie besondere Freude haben könnten und welche der Möglichkeiten am ehesten ihren Vorlieben entspricht.

Gemeinsam mit den Beschäftigten wird der Weg zum Ausflugsziel geplant. Hierzu wird der Weg von den Mitarbeiter_innen in Teilabschnitte unterteilt (z. B. bis zur Bushaltestelle, von der Bushaltestelle zum Ausflugsziel, vom Ausflugsziel zum Restaurant, in dem Mittag gegessen wird, vom Restaurant zum Bus, vom Bus zurück zum Arbeits- und Bildungsort). Die Mitarbeiter_innen fertigen Fotos an, die markante Orientierungspunkte auf dem Weg zeigen. Auch vereinfachtes Kartenmaterial oder Navigationssysteme auf dem Handy oder dem Tablet können genutzt werden.

In Abhängigkeit von den Kompetenzen der Beschäftigten kann die ‚Führung‘ zur nächsten Station jeweils unterschiedlichen Beschäftigten übertragen werden.

Der Weg wird mit Hilfe der auf den Fotos abgebildeten Orientierungspunkte gesucht. Die Fotos sind hierfür in richtiger Reihenfolge hintereinander in einer kleinen Mappe abgeheftet.

Für die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln stehen die Abfahrtszeiten auf der entsprechenden Seite im Hefter.

Die Beschäftigten bekommen ausreichend Zeit, sich in der Umgebung zu orientieren und die Orte, die auf den Fotos abgebildet sind, zu finden.

Für Beschäftigte, die Wege nicht selbstständig finden können, steht das Erfahren der neuen Umwelt im Vordergrund. Hierzu werden unterschiedliche Möglichkeiten gesucht, um die Umgebung erfahrbar zu machen, wie z. B.

  • Umgebungsgeräusche
  • wechselnde Untergründe
  • das Erkunden besonders glatter oder rauer Gebäudewände
  • bestimmte Geräuschkulissen
  • bestimmte Bewegungserfahrungen

Mit der Rückfahrt an den Arbeits- und Bildungsort endet der Ausflug. Auch den Rückweg können die Beschäftigten alleine suchen und hierzu beispielsweise die Orientierungspunkte in umgekehrter Reihenfolge nutzen.

Zum Abschluss kann gemeinsam resümiert werden, wie es gelungen ist, den Weg zu finden und was dabei besonders hilfreich oder schwierig war.