Rezeptsuche in der Leseecke

Icon-Sachaspekte & Potential: Ein weißes, stilisiertes, kreisförmiges Symbol mit kleinen und großen Punkten, die durch Linien mit der Mitte des Kreises auf blauem Hintergrund verbunden sind.

KONKRETISIERUNG  ·  Rezeptsuche in der Leseecke *

Anja Hehne – VfJ Werkstätten GmbH

SACHASPEKTE UND POTENTIAL

Das geschriebene Wort ermöglicht eine Koordination von Aktivitäten in Raum und Zeit, ohne dass Absender und Adressat der Botschaften persönlich vor Ort sein müssen.

Lesen oder vorgelesen zu bekommen, bietet uns unter anderem die Möglichkeit zu entspannen, die Allgemeinbildung zu erweitern, den Wortschatz passiv wie aktiv zu festigen und auszubauen, die Gedächtnisleistung zu steigern sowie eine Meinung zu bilden.

Medien, hier in Form von Zeitschriften erlauben es Menschen mit komplexer Behinderung, der gesellschaftlichen, nationalen und internationalen Welt näher zu kommen und so in gewissen Umfang auch mitreden zu können. Durch deren Nutzung können sie eigenen Interessen nachgehen, diese intensiveren und festigen. Sie bieten die Möglichkeit und das Ziel, Neues zu erfahren und selbst auszuprobieren sowie anschließend in die Kommunikation mit anderen zu treten.

Vor diesem Hintergrund wurde eine gemeinsame Leseecke geschaffen, um uns mit der Schriftkultur, die wir hier in Form des geschriebenen Wortes in Zeitschriften nutzen möchten, vertraut zu machen. Unterstützend für Menschen mit komplexen Behinderungen nutzen wir die Form der Leichten Sprache, Piktogramme oder Hilfsmittel wie den Anybook Reader.

In der Leseecke besteht die Möglichkeit, in der Gruppe zu sein und Unterstützung zu erfahren. Bspw. kann gemeinsam eine Sporttabelle ausgefüllt (Kommunikation, Faktenwissen und Textverständnis), das gelesene Rezept nachgebacken (kognitive Fähigkeiten, Wissen über Lebensmittel, motorische Fähigkeiten) oder eine Produktempfehlung für den getesteten Kaffee aus der Rubrik Werbung gegeben werden (Kommunikation, Wissensweitergabe, Wertschätzung von anderen, da sie Wissen vermitteln können). Die Leseecke ermöglicht aber auch einen Rückzugsort, indem man sich seine Zeitschrift wählt und ggfls. mit dem Anybook Reader einen ruhigen Platz aufsucht.

Gemeinsam arbeiten wir weiter an der Kooperation mit dem Unternehmen „Lesezirkel“. Es unterstützt uns mit Zeitschriftenspenden. Im Gegenzug lassen wir die Verantwortlichen an unserem Projekt teilhaben. Für unser Haus eröffnet es einen zusätzlichen Bereich für die Öffentlichkeitsarbeit und unsere Mitarbeiter sind stolz über ihre eigenen Zulieferungen ins Haus. Einmal im Monat werden wir zudem gemeinsam einen Kiosk aufsuchen und es können selbständig 2 Zeitschriften gekauft werden (Absprachen einhalten, Entscheidung treffen, Umgang mit Geld, Öffentlichkeitsarbeit).

In unserem aktuellen Literaturprojekt erarbeiten wir eine Zuarbeit (Rezept) für die Kochgruppe. Die bevorstehende Faschingszeit war Anlass, uns mit der Thematik auseinanderzusetzen. Wir stellten uns die Frage, was Fasching für uns ausmacht. Kostüme und Pfannkuchen/Berliner waren die meistgenannten Antworten. Gemeinsam entschieden wir uns, unserer hausinternen Faschingsvorbereitung mit der Zulieferung für ein Pfannkuchen/Berliner Rezept zu unterstützen. Das fand bei der Kochgruppe Zuspruch und motivierte uns, unser Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Im Rahmen einer weihnachtlichen Geschmacks- und Geruchsreise können mehrfachbehinderte Menschen mit Behinderung vielfältige Wahrnehmungsmöglichkeiten eröffnet werden.

Icon-Impulsfragen: Ein Bild zeigt ein zentrales weißes Fragezeichen auf einem grauen Hintergrund, umgeben von acht Lupen, die in verschiedene Richtungen zeigen.
IMPULSFRAGEN
  • Haben wir die Räumlichkeiten?
  • Wer übernimmt die Gruppe, wenn ich nicht da bin?
  • Wie biete ich die Leseecke coronakonform an?
  • Welche Hilfsmittel benötige ich?
  • Wo gehen wir die Zeitschriften kaufen?
  • Woran mache ich fest, wer zum Kaufen mitkommt und wer aussucht?
  • Wird der Anybook Reader als Mittel zur Selbständigkeit angenommen?
  • Steht die Kompetenz des Auswählens zur Verfügung?
Icon-Differenzierung: Auf grauem Hintergrund sind ein weißer Kreis und eine weißes Rechteck abgebildet. Der Kreis befindet sich oben rechts, das Rechteck unten links. Die beiden sind durch eine diagonal verlaufende weiße Linie von links oben nach rechts unten verbunden.
DIFFERENZIERUNG
  • Stehen am Lesepult und im Freistehbarren, um aufrechte Körperhaltung zu unterstützen.
  • Sitzen an einem höhenverstellbaren Tisch, sodass eine körperschonende Position eingenommen werden kann.
  • Sitzen im Sitzsack, um das Gefühl von Pause und Entspannung vermittelt zu bekommen.
  • Zeit geben, um unterschiedliche Papierarten zu erfahren z.B. Hochglanzblätter und gröberes recyceltes Papier.
  • Erfühlen und Ausprobieren der Umblätterhilfe aus Gummi; Mitarbeiter beschreiben lassen bzw. den Mitarbeitern beschreiben, wie diese sich anfühlen.
  • Vertrautmachen, Halten und Ertasten des Anybook Readers. Die Materialbeschaffenheit gemeinsam beschreiben.
  • Orientierungshilfen durch markante Artikelumrandung.
  • Tischlupe, um das Restsehvermögen zu nutzen.
  • Gute Beleuchtung im Raum schaffen.
  • Einsatz des Lesepultes, um eine gleichmäßige Ausleuchtung zu erzielen.
  • Einsatz von Bildkarten zur Verdeutlichung von Nahrungsmitteln und Küchengeräten.

Verzicht auf Hintergrundmusik.

Anybook Reader ist in der Lautstärke anzupassen.

Icon-Differenzierung: Auf grauem Hintergrund sind ein weißer Kreis und eine weißes Rechteck abgebildet. Der Kreis befindet sich oben rechts, das Rechteck unten links. Die beiden sind durch eine diagonal verlaufende weiße Linie von links oben nach rechts unten verbunden.
HANDLUNGSLEITENDE PRINZIPIEN
  • Die Mitarbeiter haben immer die Wahl an der Literaturgruppe teilzunehmen bzw. diese auch vorzeitig zu beenden. Es ist ihnen frei überlassen, für welche Zeitschrift, in diesem Fall für welche Ausgabe einer Backzeitschrift, sie sich entscheiden. Ich gebe nach der getroffenen Auswahl eine sprachliche Rückmeldung und bestärke sie in ihrer getroffenen Wahl. Die ausgewählte Zeitschrift zeigt der Mitarbeiter auch seinen Gruppenmitgliedern und verdeutlicht damit seine persönliche, auf seine Bedürfnisse zugeschnittene Entscheidung.
  • Jedem steht offen, die als Beispiele ausgestellten Gegenstände auf dem Tisch zu begreifen und zu erfahren. Dinge, die mitunter weniger bekannt sind, wie eine Fritteuse, werden vorgestellt und ihr Einsatz miteinander besprochen.
  • Gemachte Vorschläge, besonders die des Herrn W., greife ich auf, um ihn weiterhin zu motivieren und aufzuzeigen, über welche lösungsbezogenen Kompetenzen er verfügt. Assistierend gebe ich Hilfestellung beim Anbahnen von Kompromisslösungen und spiegle der Gruppe, dass Vorschläge und Entscheidungen diskutiert werden dürfen. Die getroffenen Gruppenentscheidungen nehme ich wahr und melde diese sprachlich zurück.
  • Ich biete der Gruppe individuelle Hilfsmittel an, die genutzt aber nach ausprobieren auch abgelehnt werden können.
  • Der Raum ist nach den Wünschen und Vorstellungen der Literaturgruppe ansprechend ausgestattet. Wir besprechen in altersgemäßer und leichter Sprache nochmal, wie es zu der Idee der Rezeptübergabe an die Küchengruppe kam (Arbeitserleichterung durch Aufgabenteilung).
  • Wir legen gemeinsam die heutige Aufgabenstellung fest und halten diese schriftlich fest. Bei dem Finden seines persönlichen Favoriten, ist jeder größtmöglich selbständig und eigenverantwortlich tätig. Themenbezogene Gespräche mit anderen Abteilungen, Kollegen und untereinander in der Kleingruppe werden im Vorfeld und zum späteren Austausch gefördert und unterstützt.
  • Willkommenheißend und wertschätzend wird die Gruppe begrüßt. Ich erinnere zu Beginn an unseren zeitlichen Rahmen. Dieser wird im Verlauf der Stunde durch mehrere Time Timer an unterschiedlichen Standorten visualisiert. Ein Schild mit Metacom und Schriftsymbolen an der Tür verdeutlicht anderen, dass wir nicht gestört werden möchten. In kurzen Sätzen gebe ich unsere für heute gesetzten Ziele wieder. Bildkarten und Gegenstände des alltäglichen Lebens liegen als anregende Verstärker zur gemeinsamen Kommunikation bereit. Für die Besprechung nehmen wir uns Zeit und ich wiederhole Gesagtes in kurzen Sätzen. Fragen werden bestmöglich und altersgerecht beantwortet. Bei Unklarheiten nutzen wir das Internet.
  • Auf sich aufmerksam machen, um einem anderem Gruppenmitglied zu zeigen, was einem gerade gefällt oder nicht gefällt, ihn zu sich zu bitten, wird bestärkt. Einhalt wird nur geboten, wenn erkennbar ist, dass der Angesprochene dadurch gestört wird. Signalisiert er, dass er jetzt seiner Aufgabe zugewandt ist, vermittle ich dies und verweise auf einen möglichen späteren Austausch.
  • Generell ist in der Literaturgruppe das Sprechen, das Zeigen der Zeitschriften/Artikel und der Austausch hierüber erwünscht. Diese Zeit, die auch ihre Pausenzeit ist, soll freudvoll empfunden werden und zum Wiederkommen einladen (achtsame und respektvolle Haltung).
  • Durch genaues Beobachten, wie es meiner Gruppe geht, kann ich Wahrgenommenes widerspiegeln, nachfragen, Hilfestellung anbieten oder einfach weiter bestärken und motivieren.
  • Der Raum wurde so gestaltet, dass er eine positive und erwartungsfreie Atmosphäre ohne Leistungsdruck bietet. Es werden Hilfsmittel für die jeweiligen Bedürfnisse des Mitarbeiters angeboten, wie etwa die Tischlupe oder die Umblätterhilfe.
  • Wenn Themen besprochen werden, kann sich jeder beteiligen, muss dies aber nicht. Es wird von der Gruppe respektiert. Wir hören uns gegenseitig zu und lassen jedem die Zeit, die er braucht.
  • Die angebotenen Materialien haben eine hohe und ansprechende Qualität, sind alltags- und erwachsenenbezogen.
  • Die Gruppe weiß, wer die regelmäßigen Treffen übernimmt, wenn ich nicht im Haus bin. Über meine Abwesenheit wird sie frühestmöglich in Kenntnis gesetzt.
  • Durch die Bereitstellung der Hilfsmittel ist es den Mitarbeitern möglich, weitestgehend selbständig zu handeln. Durch gemeinsame Textauswertungen sammeln wir Informationsmaterial für andere Gruppen im Haus. So bekommt die Gartengruppe neue Tipps zum Pflanzen oder die Holzgruppe neue Anregungen für die Weihnachtsdeko. Diese werden mit viel Lob und Dankbarkeit angenommen und wertgeschätzt.
  • In diesem Fall unterstützen wir die Kochgruppe, indem wir uns um die Rezeptsuche kümmern.
  • Die Gruppe legt gemeinsam ein Wörterbuch in Bild und Schriftform an und mit ausgewählten Rezepten schaffen sie ein Rezeptebuch fürs Haus. Nach Schwerpunkten untergliedert, hat jede Gruppe die Möglichkeit bei Bedarf darin zu stöbern. Es motiviert dazu, dass andere durch unser Zutun etwas in den Händen halten können. Sie erfahren viel Lob dafür.
  • Die erhaltene Anerkennung durch den Lesezirkel und die finanzielle Unterstützung unserer Einrichtungsleiterin haben uns motiviert und bestärkt einen neuen Qualitätsbereich im Arbeitsalltag zu schaffen. Diese Impulse haben alle Gruppenmitglieder aktiv werden und sich als selbstwirksam erfahren lassen.
Icon-Wortfeld: Das Bild zeigt das Wort „WORT“ in Großbuchstaben auf einem strukturierten blaugrauen Hintergrund.
THEMENBEZOGENES WORTFELD
  • die Zeitschrift(en)
  • das Zeitschriftenregal
  • der Artikel/die Artikel
  • das Wort/die Wörter
  • die Marmelade
  • das Rezept
  • die Hefe
  • die Milch
  • das Ei
  • das Mehl
  • die Abbildungen
  • die Literaturgruppe
  • die Literatur
  • der Zucker
  • der Mixer
  • die Rührschüssel
  • die Waage
  • die Fritteuse
  • der Fasching
  • die Leselupe
  • die Umblätterhilfen
  • das Wörterbuch
  • die Symbolkarten bzw. Bildkarten von Lebensmitteln
  • lesen
  • erzählen
  • zuhören
  • sammeln
  • blättern
  • fragen
  • merken
  • erinnern
  • diskutieren
  • verstehen
  • probieren
  • mixen
  • mischen
  • lernen
  • entspannen
  • backen
  • frittieren
  • leise
  • schön
  • lecker
  • aufregend
  • schwierig
  • hungrig
  • lustig
  • kompliziert
  • wissenswert
  • klebrig
  • sehenswert
  • interessant
  • lehrreich
  • süß
  • mehlig
  • Wo finde ich die Seite?
  • Ich möchte weiterlesen!
  • Wieso heißen die Berliner?
  • Wann gibt es die Pfannkuchen/Berliner?
  • Dauert das lange?
  • Wie viel Geld kosten…?
  • Kann ich das kaufen?
  • Können wir das auch ausprobieren?
  • Das gefällt mir! / Das gefällt mir nicht!
  • Das kenne ich! / Das kenne ich nicht!
  • Sieht das lecker aus!
Icon-Beispielplanung: Ein weißes geometrisches Logo, das aus mehreren Kreisen besteht, die zwei abgerundete, miteinander verbundene Formen bilden. Über einem Teil des Logos liegt ein kreisförmiges Pfeilsymbol, alles auf einem  grauen Hintergrund.
BEISPIELPLANUNG
Organisationsphase – Schaffen einer Leseecke als Grundbaustein

Zu Beginn stellte ich meinem Team das geplante Projekt der Leseecke vor, mit der Bitte um Unterstützung, um eine Kontinuität auch während einer etwaigen Abwesenheit sicherzustellen. Nur so bleiben die Mitarbeiter motiviert, das Angebot einer Leseecke zu nutzen und sich an einzelnen Literaturprojekten zu beteiligen.

Ein zur Verfügung gestelltes Budget unsere Einrichtungsleiterin ermöglichte es, die räumlichen Gegebenheiten angemessen an die bestehenden Ansprüche einer Leseecke anzupassen.

Durch coronabedingte modifizierte Anwesenheitszeiten war die eigentliche Mitarbeitergruppe, auf die sich mein Fokus legte, stark dezimiert. So konnte es aber bei den verbleibenden Mitarbeitern nicht zu einer Gruppendurchmischung kommen und sie konnten während der Literaturstunde sinnvollerweise ihre Maske ablassen. Die zur „alten“ Pausengruppe gehörenden Mitarbeiter lud ich zu einem gemeinsamen Treffen ein, um ihnen von meinem Vorhaben einer Leseecke zu erzählen. Ich brauchte nicht nachzufragen, ob sie auch an einer neuen Form des Pausenangebots teilnehmen und dieses aktiv mitgestalten würden. Die Freude auf etwas Neues und doch Vertrautes war sofort groß. Wir klärten zur Orientierung, dass sich zeitlich nichts verändern und die 1h Mittagspause weiterhin zur Verfügung stehen wird.

Ein wichtiger Punkt war, das zu besprechen, was eine Leseecke für sie ausmacht. Dazu bot ich ihnen unterstützend Einrichtungskataloge an, um eine Vorstellung von Inventargegenständen zu bekommen. Ein Zeitschriftenregal war schnell gefunden und nach einigem Für und Wider konnten sie sich auf eine Farbe des Regales einigen. Die Kommunikation untereinander fand ohne UK statt. Ich habe nur dahingehend assistierend gewirkt, einen Kompromiss für die Farbe anzubieten. Nach erneuter Rücksprache mit unserer Einrichtungsleitung wurde das Regal umgehend bestellt (Motivation, Vertrauen in das Können.) Gemeinsam setzten wir ein Schreiben an den Lesezirkel auf, mit der Bitte, uns bei dem Projekt mit Zeitschriftenspenden zu unterstützen. Eine positive Antwort ließ nicht lange auf sich warten und wir werden seitdem in regelmäßigen Abständen mit brandaktuellen Zeitschriften beliefert.

In den weiteren Treffen, die noch vor der Vorphase des vorliegenden Literaturprojekts stattfanden, stellte ich ihnen den Anybook Reader vor. Herr G. war gleich von der Funktion und der Möglichkeit, sich allein Artikel anzuhören, begeistert. Ich erklärte ihm, dass Kollegen und ich, die dazugehörigen Sticker mit Artikeln aus den Zeitschriften in leichter Sprache besprechen werden und er diese dann selbständig in der Lesezeit abrufen kann. Die Sticker auf den Zeitschriftenseiten, habe ich mit einer erhabenen Umrandung hervorgehoben.

Herrn W. war es wichtig seine Pause in einem Sitzsack zu verbringen, aber Teil der Gruppe zu sein.

Wir besorgten einen Sitzsack für Herrn W. und Umblätterhilfen, da es ihn anstrengte und hohe Konzentration kostete, die Blätter umzudrehen. Er zeigte keine taktile Abwehr und konnte sie nach mehrmaligem Vorzeigen, selbst praktisch anwenden.

Ein Lesepult für Herrn A. befand sich im Haus. Wir konnten es uns anschauen und ausprobieren. Herr A. stand der neuen Tischart offen gegenüber.

Für Frau H. entschieden wir uns eine Tischleselupe anzubieten. Schwindende Sehkraft erschwert ihr die visuelle Wahrnehmung und aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters würde es ihr schwerfallen, die ganze Zeit eine Lupe in der Hand zu halten. Die Tischlupe ermöglicht es ihr, sich mit den Unterarmen auf den Tisch abzustützen und ihr Restsehvermögen über die Lupe zu kompensieren.

Vorphase – Projekt ‚Rezeptsuche‘

Es werden zunächst die Themen besprochen, die die Gruppe im Allgemeinen bewegen, um dann mit gezielter Konzentration in die Literaturzeit zu starten. Es wird auf die Möglichkeit hingewiesen, Getränke zu sich zu nehmen.

In unserem vorherigen Treffen haben wir beschlossen, der Kochgruppe ein Rezept für Faschings- Pfannkuchen/Berliner aus unseren Zeitschriften rauszusuchen. Diesen Punkt greifen wir zu Beginn der Stunde wieder auf. Ich fasse unsere letzte Literatureinheit kurz zusammen, in der wir Artikel zum Thema Fasching vorgelesen hatten. Ich frage die Gruppe, ob alle weiterhin damit einverstanden sind, ein Rezept für Pfannkuchen/Berliner rauszusuchen und der Kochgruppe zu überreichen = Kompetenzen aufzeigen. Es wurde bejaht.

Zur visuellen Unterstützung habe ich Küchengeräte, die man dafür benötigt, wie Mixer, Waage, Messbecher, Rührschüssel und Fritteuse (diese als Foto) auf meinem Arbeitstisch drapiert. Ebenso wie Zutatenkarten. Auf denen sind Eier, Mehl, Milch, Zucker, Marmelade und Hefe abgebildet sowie der fertige Pfannkuchen/Berliner als Zielobjekt. Das schaffte auch eine einstimmende Atmosphäre auf die Stunde.

Wir haben in vorherigen Stunden gemeinsam besprochen, welche Medien noch genutzt werden können, um Rezepte ausfindig zu machen. Dazu haben wir dann in Backbüchern gelesen (haptische Reize) und auf Internetseiten geschaut und dort kleine Rezensionen über nachgebackene Rezepte gelesen (visuelle Reize). Für unsere Rezeptsuche einigten wir uns auf das Medium Zeitschriften.

Jeder hat erstmal die Zeit, sich die Dinge auf dem Tisch anzuschauen, anzufassen und Fragen zu stellen = effektgeleitet. Möglichst viele Sinne sollen angeregt werden, um Interesse und Verständnis zu wecken. Jeder Mitarbeiter kann sagen, welche Dinge er kennt und wie sie genutzt werden = Kompetenzen aufzeigen. Ich wiederhole gesagtes zur Wissensfestigung. Sie erfahren Lob und Zuspruch, es weiter zu versuchen.

Im Anschluss daran gebe ich noch einmal die konkrete Aufgabenstellung und schreibe diese auch groß an ein Flipchart, zusätzlich versehen mit einer Backzeitschrift und einem Bild von einem Pfannkuchen/Berliner = reflektiert symbolisch. Die Vorfreude, das Rezept an ihre Kollegen in der Küchengruppe zu übergeben und auf ein späteres Verkosten, motiviert die Gruppe.

Ich gebe der Gruppe zur zeitlichen Orientierung einen Ablaufplan für die heutige Stunde. Ziel soll es heute sein, sich mittels Backzeitschriften auf seinen persönlichen Favoriten festzulegen und sich im anschließenden Gruppenaustausch auf ein Rezept festzulegen.

Aus einer Vielzahl von ausgelegten Backzeitschriften soll sich eine Zeitschrift/ein Rezept ausgesucht werden = Entscheidungsfähigkeit. Sie erfahren Bestärkung darin, dass ein Wechsel der Zeitschriften auch möglich ist.

Die Einzelsitzplätze sind entsprechend der Wünsche als auch der körperlichen Gegebenheiten des jeweiligen Mitarbeiters vorbereitet. Das Einrichten des Leseplatzes erfolgt je nach Unterstützungsbedarf des Mitarbeiters auf unterschiedliche Weise. Die Unterstützung kann stellvertretend erfolgen, so wie bei Herrn G, für den ich den Freistehbarren bereitstelle. Die Unterstützung bei Frau H erfolgt hingegen dadurch, dass Frau H. und ich die Leselupe gemeinsam an ihren Leseplatz stellen. Sie kann aber auch selbständig erfolgen, so wie bei Herrn W., der seinen Sitzsack eigenständig positioniert oder Herr A., der das Tischlesepult an seinen Platz rollt.

Ich weise kurz auf die uns noch zur Verfügung stehende Zeit hin und lasse die Gruppenmitglieder ihre Plätze einnehmen.

Herrn G. stelle ich in den Freistehbarren und reiche ihm seine ausgewählte Zeitschrift. Wir kontrollieren, ob er eine gute Sicht auf das Blatt hat. Schattenwurf oder spiegeln auf dem Hochglanzpapier sind zu vermeiden. Zur weiteren Unterstützung bekommt er den Anybook Reader. Als technisch interessierter junger Mann, ist er begeistert den Stift zu benutzen und durch ihn vorgelesen zu bekommen. Seine Artikelsticker sind leicht erhaben umrandet, sodass ein Verrutschen des Stiftes größtmöglich verhindert wird. Eine mögliche Frustration und die Gefahr den Spaß an der Sache zu verlieren, gilt es zu verhindern. Ich motiviere ihn, mich jederzeit anzusprechen, wenn er etwas mitteilen möchte, er Unterstützung benötigt oder wieder in seinen Rollstuhl zurückgesetzt werden möchte. Er hat mich verstanden und möchte erst allein beginnen, ruft mich aber bei Wörtern, die ihm Verständnisprobleme bereiten. Diese legen wir dann im Anschluss in unserem Wörterbuch an. In seiner Nähe befindet sich zur zeitlichen Orientierung ein Time Timer = reflektiert-symbolisch.

Frau H. platziert ihre Zeitschrift unter der Tischleselupe und ist von dem Ergebnis begeistert. Sie ruft gleich nach Herrn A., um ihm die Wirkung der Lupe zu zeigen. Sie kommen kurzzeitig in die Kommunikation miteinander und tauschen Gesehenes aus.

Da Frau H. nicht lesen kann, habe ich ihr den Anybook Reader angeboten, den sie aber ablehnte. Auf ihren Wunsch hin, komme ich zu ihr und lese ihr die von ihr gezeigten Artikel vor. Wir treten danach in den Dialog und sie versucht wiederzugeben, was ich Vorgelesenen habe. Gerne wiederhole ich Teilbereiche, um sie bei ihrer selbständigen Zusammenfassung zu unterstützen. Dabei erfährt sie viel Lob für ihr gutes und aufmerksames Zuhören. Ansonsten orientiert sie sich an der Schönheit der Abbildungen. Hinweise, dass wir Pfannekuchen/Berliner suchen, nimmt sie wohlwollend zur Kenntnis.

Nachdem Herr W. auf seinem Sitzsack Platz genommen hat, reiche ich ihm die Umblätterhilfen, mit denen er sich bei vorherigen Treffen schon vertraut gemacht und geübt hatte.

Selbstbewusst weißt er mich darauf hin, dass er gut allein klarkommt. Er wisse, wonach er suchen müsse. Ich bitte ihn trotzdem, bei Worten, die er problematisch findet, nachzufragen, da wir komplizierte und unbekannte Wörter für unser Wörterbuch sammeln. Das motiviert ihn wiederum von der angebotenen Unterstützung Gebrauch zu machen, da er möchte, dass von ihm gefundene Wörter besprochen und gesammelt werden.

Herr A. steht aufrecht am Lesepult und auch hier schauen wir gemeinsam, ob alle Störfaktoren ausgeschlossenen sind. Auf Grund seines hohen Bewegungsbedürfnisses, wählte Herr A. das Lesepult, um sich hin und wieder abzustützen, aber auch Positionswechsel im Raum vornehmen zu können. Zuvor haben wir besprochen, dass dies, ohne die anderen zu stören und abzulenken erfolgen möchte. Das hat er verstanden und ist bemüht Rücksicht zu nehmen. Er liest langsam, aber selbständig und benötigt keine Unterstützung. Für ihn stellt es eine Qualitätsauszeit dar, in Ruhe und ohne Zwischenstörungen lesen zu können. Er interessiert sich mehr für Sportzeitschriften und aktualisiert sein Wissen z.B. zum Stand der Formel Eins Weltmeisterschaft. Er war aber kompromissbereit sich an der Gruppenarbeit zu beteiligen, da ein Freund von ihm in der Küchengruppe arbeitet und es ihn glücklich macht, einen Rezeptvorschlag an ihn zu überreichen. Die Gruppe ist mit ihm als Überbringer einverstanden und freut sich, dass er dabei ist.

Nachdem alle einen persönlichen Favoriten gefunden haben, bekommt jeder die Gelegenheit sein Rezept vorzulesen, es durch den Anybook Reader vorlesen zu lassen, sein schönstes Bild zu zeigen oder durch mich vorlesen zu lassen. Alle Mitarbeiter werden für ihre ausdauernde und zielführende Arbeit aufrichtig gelobt. Geleistetes wird nochmals aufgezeigt.

Nachdem ein Vorschlag eines Mitarbeiters vorgelesen wurde, schaut derjenige auf den Tisch, ob auch alle benötigten Gegenstände und Zutaten vorhanden sind, und benennt diese. Bei Zuordnungsschwierigkeiten unterstützt die ganze Gruppe und freut sich über jeden Erfolg seines Gruppenmitglieds = alle sind aktiv an der Ergebnisfindung beteiligt. Wörter, die im Vorfeld problematisch waren und auch jetzt für Verunsicherung sorgen, werden erklärt, in unser Wörterbuch geschrieben und zu einem späteren Zeitpunkt mit Fotobildern unterlegt.

Die ausgewählten Favoriten werden nach deren Vorstellung auf dem Tisch platziert. Ich stelle der Gruppe die Frage, wie sie sich vorstellen könnten, auf ein endgültiges Ergebnis zu kommen. Herr W. macht den Vorschlag Schere, Stein, Papier zu spielen. Die Gruppe ist damit aber nicht einverstanden. Das stellt für Herrn W. kein Problem dar. Da ich merke, dass sie im Moment keine Lösung finden, schalte ich mich unterstützend ein und frage, was sie davon halten, die Küchenchefin entscheiden zu lassen. Sie wisse am besten, welches Rezept am unproblematischsten umzusetzen wäre. Für die Rezepte, die nicht ausgewählt werden, legen wir eine Rezeptmappe für unser Haus an und bestücken diese mit jedem einzeln ausgesuchten Favoriten = Soll jeder Mitarbeiter das Gefühl verdeutlicht bekommen, dass seine Leistung wertvoll und achtenswert ist.

Der Vorschlag wird angenommen und es herrscht große Freude darüber, dieses neu zu erstellende Rezeptbuch bei dem nächsten Betreuerabend vorzustellen. Herr G. wird zurück in den Rolli gesetzt und nimmt gut positioniert weiter aktiv am Gruppengeschehen teil.

Ich mache meiner Lesegruppe deutlich, wie ausdauernd und konzentriert sie an ihrer Aufgabe gelesen haben. Des Weiteren bestärke und verdeutliche ich die vorhandenen Kompetenzen und den Umstand, dass sie es geschafft haben, gemeinsam an ein Ziel zu gelangen. Das keiner nur an seinen Vorteil dachte, sondern sie klar als Gruppe zu erkennen sind. Gerade Herr W. der immer wieder Ideen einbrachte, die keine Mehrheit erzielten, blieb immer höflich und einsehend. Dafür bedanke ich mich bei ihm. Jeder in der Gruppe hat die Zeit, seine Meinung zu der Stunde zu geben.

Im Anschluss daran gebe ich einen Ausblick auf die nächste Stunde der Literaturgruppe. Ich werde die Küchenchefin zu unserem Termin einladen. So können wir gemeinsam ein weiteres Vorgehen absprechen. Wenn die Küchenchefin eine Wahl getroffen hat, werden wir das Rezept in die leichte Sprache übersetzen und Herr A. wird es für uns am PC aufschreiben, ausdrucken und der Küchengruppe im Beisein der ganzen Literaturgruppe überreichen. Die erhaltene Anerkennung und spürbare Freude der Küchengruppe, dass wir ihr diesen Arbeitsschritt abgenommen haben, wird die Mitarbeiter zu neuen Ideen und ihrer Umsetzung motivieren.

Alle räumen ihre Zeitschrift zurück ins Regal, legen die unterstützenden Hilfsmittel auf den Tisch, bringen nach der Verabschiedung ihren Trinkbecher in die Küche und denken bitte wieder an das Tragen der Maske im Flurbereich.


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Die Konkretsierung ist im Rahmen der Multiplikator*innenqualifikation entstanden.