Herausforderungen

Herausforderungen in der palliativen Versorgung und Begleitung von Menschen mit komplexer Behinderung

Neben den „typischen“ Veränderungen und Symptomen, die für die meisten Menschen in den letzten Lebenstagen üblich sind, bringen Menschen mit komplexer Behinderung spezifische Herausforderungen für die hospizliche und palliative Begleitung und Versorgung mit. Diese erfordern eine individuelle und differenzierte Auseinandersetzung.

Die Frage nach dem Beginn einer palliativen Situation bei Menschen mit komplexer Behinderung

Typische Symptome
am Lebensende
treten im Lebens-
verlauf auf

Symptome, die charakteristisch für das Lebensende sind, können bei Menschen mit komplexer Behinderung das ganze Leben hinweg immer wieder auftreten. Dies können Begleitsymptome von verschiedenen lebenslangen chronischen Erkrankungen oder die Folge einer schweren cerebralen Bewegungsstörungen sein, wie Skoliosen mit Organverlagerungen, Kau- und Schluckstörungen mit Aspiration und folgender Lungenschädigung und körperliche Fehlbildungen oder Organstörungen als Folge von Syndromen, die sich verschlechtern können.

Bedarf an
palliativer
Begleitung

Nach Jennessen [1] sind viele Menschen mit komplexer Behinderung von einer Lebensverkürzung betroffen.

In seinem Artikel „Junge Menschen in dauerhaft fragilen Gesundheitssituationen“ nennt er bei seiner Klassifizierung lebensverkürzender und lebensbedrohlicher Erkrankungen Menschen mit komplexer Behinderung in Gruppe 4. Deren Erkrankungen beschreibt Jennessen wie folgt:

„Erkrankungen mit schweren neurologischen Behinderungen, die Schwäche und Anfälligkeit für gesundheitliche Komplikationen verursachen und sich in unvorhergesehener Weise verschlechtern können, aber üblicherweise nicht als fortschreitend angesehen werden (z.B. schwere, mehrfache Beeinträchtigungen, spezifische Syndromkomplexe).“ [2]

Damit ergibt sich für viele Menschen mit komplexer Behinderung neben dem Anspruch auf Begleitung durch ambulante Hospizdienste sowie Aufenthalte im stationären Kinder- bzw. Jugendhospiz (wenn es sich um Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene handelt) auch der Anspruch auf eine weitere palliativmedizinische und -pflegerische Begleitung und Versorgung. Diese kann unabhängig von der akuten Gesundheitssituation dazu beitragen, die wahrgenommene Lebensqualität zu erhalten, z.B. indem Schmerzen bei Osteoporose oder Spastiken und Atemnot bei chronischen Lungenerkrankungen gelindert werden. Die Frage nach Palliative Care sollte sich demnach am Bedarf und nicht ausschließlich an der verbleibenden Lebenszeit orientieren und sehr früh einsetzen.

Krisenhafte Veränderungen
im Lebensverlauf

 

Darüber hinaus kann eine palliative Begleitung bei krisenhaften Veränderungen im Gesundheitszustand einsetzen, ohne dass das Lebensende unmittelbar bevorsteht. Oft wird Menschen mit komplexer Behinderung medizinischerseits eine kurze Lebenszeit attestiert und oft durchlaufen sie mehrmals schwerste Erkrankungen und Krisen im Lebensverlauf, bei denen ein Überleben fraglich ist,. Beispielsweise kann es zu schweren Lungenentzündungen oder anderen Infektionskrankheiten kommen, bei denen die Gefahr besteht, dass Menschen daran versterben. Auch schwere epileptische Anfälle oder andere Komplikationen im Zusammenhang mit Organfehlbildungen, können akut zu drastischen Verschlechterungen ihres Gesundheitszustandes führen.

Schwierigkeit palliative
Situationen von
vorübergehenden
Krisen zu
unterscheiden

 

(Scheinbar) Palliative Situationen können beim Personenkreis demzufolge sehr schnell und unvorhergesehen entstehen, aber auch wieder überwunden werden.  Gerade junge Menschen mit komplexer Beeinträchtigung haben oft einen großen Lebenswillen und können schwere gesundheitliche Krisen überwinden. In dieser Situation ist die gute Beobachtung aller Beteiligten notwendig, und zu klären, ob sich der:die Betroffene tatsächlich am Lebensende oder in einer vorübergehenden Krise befindet. Mit Entscheidungen für die Änderung oder den Abbruch von kurativen Maßnahmen muss sehr behutsam umgegangen werden [3].

Schleichende
Veränderungen
als Zeichen einer
palliativen Situation

 

Palliative Situationen können auch als schleichende Prozesse mit schrittweiser Verschlechterung des Gesundheitszustandes und Funktionsaufgabe von Organen verlaufen. Dies kann sich unter anderem durch eine vermehrte Anfälligkeit für Krankheiten, Müdigkeit oder dem Nachlassen von Aufmerksamkeit zeigen. Es kann sein, dass ein Mensch Essen und Trinken ablehnt oder bei Alltagstätigkeiten sehr schnell erschöpft, z.B. beim Sitzen im Rollstuhl oder beim Laufen. Es kann auch sein, dass Menschen an liebgewonnen Aktivitäten kein Interesse mehr zeigen, sich zurückziehen oder kaum mit anderen interagieren (möchten). Auch aggressive Verhaltensweisen können auftreten.

Wichtig ist, dass auch solche schleichenden Veränderungen beobachtet und als mögliches Zeichen von sich verschlechternden Krankheiten, Alterungsprozessen oder auch eines sich ankündigenden Lebensendes in Betracht gezogen werden. Es ist dann zu fragen, welche Interventionen zugunsten der Lebenszeit notwendig und sinnvoll sind und welche zum Wohlfühlen im Jetzt unterlassen werden können. Dabei gilt der (mutmaßliche) Wille des Menschen mit komplexer Behinderung, da nur er beurteilen kann, was er subjektiv als Lebensqualität empfindet. Gegebenenfalls müssen Vermutungen durch die Beobachtung von Verhalten und nonverbalen Zeichen gemacht werden. [4] Unabhängig davon muss in allen Situationen dafür Sorge getragen werden, dass ein Mensch mit komplexer Behinderung angemessen pflegerisch, medizinisch und psychosozial begleitet und betreut wird.

Verständnis von Sterben und Tod

Erfahrungen mit Sterben
und Tod beeinflussen
das Verständnis
 

Alle Menschen haben ein unterschiedliches Verständnis von Sterben und Tod und dem was danach passiert. Bei Menschen mit einer komplexen Behinderung wird dieses schnell auf ihre kognitiven Fähigkeiten zurückgeführt. Ihnen wird oft kein umfassendes Verständnis zugetraut bzw. die Fähigkeit ein solches entwickeln zu können abgesprochen. Stattdessen werden sie immer wieder mit Kindern verglichen. Dadurch besteht die Gefahr zu übersehen, dass sie erwachsene Menschen mit entsprechender Lebenserfahrung sind. Gemachte Erfahrungen sind jedoch ein wichtiger Faktor für die Herausbildung eines Verständnisses von Sterben und Tod und müssen berücksichtigt werden. [5]

viele Erfahrungen
mit Sterben und Tod
 

Für den Personenkreis der Menschen mit komplexer Behinderung ist davon auszugehen, dass viele in ihrem Leben nicht nur sondern auch besonders häufig Erfahrungen mit Abschied, Sterben, Tod und Trauer machen. Wie zuvor beschrieben erleben viele wiederholt gesundheitliche Krisen, mit ungewissem Ausgang, die sie mit ihrer eigenen Endlichkeit konfrontieren. Auch in ihrem Umfeld erleben sie eventuell häufiger, dass z.B.  Mitbewohne:innen, Kolleg:innen oder Freund:innen, aufgrund einer Erkrankung oder damit einhergehender Krisen früh versterben. Stirbt eine Bezugs- oder Begleitpersonen, auf die sie stark angewiesen sind, kann sich das ebenfalls auf sie und ihr ganzes Leben auswirken. Abschied, Sterben und Tod werden so unter Umständen auf ganz umfassende Art und Weise erfahren. [6]

Unangemessene Begleitung kann zu Ängsten und Unsicherheit führen
 

Auch Menschen mit komplexer Behinderung bemerken derartige Veränderungen, nehmen damit einhergehende Stimmungen sensibel wahr, entwickeln eigene Gedanken und Gefühle dazu und reagieren entsprechend. Wenn ihnen eine solche Wahrnehmung und ein (umfassendes) Verständnis von Sterben und Tod jedoch nicht zugetraut wird, werden ihnen möglicherweise Informationen und Erklärungen vorenthalten. Das kann zur Herausbildung eines falschen Verständnisses, zu einer problematischen Einordnung von künftigen Situationen, sowie zu Angst und Unsicherheit auch in Bezug auf das eigene Lebensende führen. [7]

Verschiedene Begleit-
angebote machen
 

Eine gute Begleitung von Situationen, die mit Abschied, Sterben, Tod und Trauer einhergehen, kann zu einem Gefühl von Sicherheit beitragen [8], indem die verschiedenen Dimensionen des Todes nach und nach begreifbarer werden und eine Bearbeitung der eigenen Trauer ermöglicht wird. Dafür ist es wichtig, dass Begleitpersonen ein Bewusstsein dafür haben, dass von außen nie vollständig sichtbar ist, was in einer Person vorgeht und was sie versteht. Bezugspersonen sollten verschiedene Ausdrucksweisen daher möglichst vielfältig interpretieren und Begleit- und Bildungsangebote schaffen, die von verschiedene Verständnisniveaus als Möglichkeit ausgehen.

Enttabuisierung

Das bedeutet konkret, dass die Themen Sterben, Tod und Trauer nicht tabuisiert werden sollten. Menschen mit komplexer Behinderung sollten nicht aus einem Schutzgedanken heraus davon ferngehalten werden [9].

Bildungsangebote
 

Bildungsangebote rund um die Themen Gesundheit/Krankheit, Abschied, Sterben, Tod und Trauer können ihnen auch ohne konkreten Anlass die Möglichkeit geben, sich mit diesen Themen auseinander zu setzen und darauf vorzubereiten. Es können z.B. Bildungsfahrten in ein Hospiz, auf den Friedhof oder andere mit Sterben, Tod und Trauer aussoziierte Orte stattfinden. Filme zum Themenkreis können gemeinsam angeschaut und als Gesprächsanlass genutzt werden. Mittels Anschauungsmaterialien können verschiedene Krankheitsbilder oder spezifische medizinische Behandlungen erklärt werden. Derart kontinuierliche Angebote können einen Raum für die langwierigen Prozesse des Verständnisaufbaus darstellen.

Sterben, Tod und Trauer
mit allen Sinnen erfahrbar
machen und begleiten
 

Weiter sollten Menschen mit komplexer Behinderung nicht von schwerkranken und sterbenden Menschen in ihrem Umfeld abgeschirmt werden. Damit kann einerseits die Trauerarbeit vorbereitet werden, andererseits kann die direkte Wahrnehmung mit allen Sinnen zu einem Verstehen und einem weniger angstbehafteten Blick auf das eigene Sterben beitragen. In der Begleitung eines sterbenden Menschen können sie bestenfalls erfahren, dass dieser in seiner vertrauten Umgebung bleiben darf, mit der Situation nicht alleine gelassen wird und, dass seine Symptome behandelt werden. Weiter sollte Menschen mit komplexer Behinderung angeboten und ermöglicht werden sich von Toten zu verabschieden. Durch das Sehen und Berühren, sowie durch begleitende Erklärungen können sie erfahren, dass dieser Mensch tot ist: sein Herz schlägt nicht mehr, der Mensch atmet nicht mehr, die Hautfarbe verändert sich, der Mensch wird kalt, er reagiert nicht mehr. Dadurch wird unter anderem verstehbar, dass es dem toten Menschen nicht wehtut, wenn er verbrannt oder beerdigt wird. Auch die Teilnahme an Beerdigungen, Gedenkfeiern und weiteren Ritualen sollte angeboten und ermöglicht werden. [10] Im Rahmen der Rituale können Begleitpersonen verbalisieren, dass eine Person gestorben ist und was das in Bezug auf die verschiedenen Dimensionen des „Tot-Seins“ bedeutet, d.h. dass eine Person nicht mehr da ist und nicht wieder kommt, dass der Körper nicht mehr wie vorher funktioniert und nichts mehr empfinden kann, dass alle Menschen sterben und dass es verschiedene Ursachen für den Tod eines Menschen geben kann. [11] So kann sich nach und nach möglicherweise ein umfassendes Verständnis von Sterben und Tod entwickeln. Bei all diesen Angeboten ist auf Freiwilligkeit zu achten. Alle Reaktionen und Anzeichen von Überforderung müssen sensibel wahrgenommen und entsprechend beantwortet werden.

Kommunikationsbarrieren und alternative Kommunikationsformen

Eingeschränkte
verbalsprachliche
Möglichkeiten

Viele Menschen mit komplexer Behinderung können sich nicht oder nur eingeschränkt verbal äußern. Stattdessen nutzen sie meist andere Kanäle zum Ausdruck der eigenen Bedürfnisse, Präferenzen und auch Schmerzen. Diese sind für Begleitende oft nicht eindeutig zu interpretieren.

Anbieten alternativer
Formen der
Kommunikation

Die Herausforderung für Begleitende liegt darin alternative Formen der Kommunikation anzubieten und auch ungewöhnliche Ausdrucksformen als Möglichkeiten der Interaktion verstehen und deuten zu lernen. Entscheidungen bezüglich der „Wortwahl, [des] Sprechtempo[s] und den Ebenen der Kommunikation“ (verbale, nonverbale Aspekte sowie die Art der Kommunikationsunterstützung über Mimik, Gestik, Körperkontakt, Gegenstände, Fotos, Piktogramme, technische Hilfsmittel, usw.) sollten in direkter Rückkopplung mit den Reaktionen des:der Betroffenen gemeinsam getroffen werden [12]. Auch Herausfordernde Verhaltensweisen, wie z.B. in sich zurückziehen, schreien, schlagen, stereotype Verhaltensweisen und die Beobachtung der Vitalfunktionen einer Person können Aufschluss darüber geben, wie es ihr in einem bestimmten Moment oder in Bezug auf eine Maßnahme geht – eine Veränderung in der Muskelanspannung, Schwitzen und eine schnelle Atmung, sowie das Anhalten der Atmung können beispielsweise Zeichen für Unwohlsein, Schmerzen, Stress oder auch eine andere Gefühlsregung sein. Derartige basale Veränderungen sind von Begleitenden sensibel wahrzunehmen und als Ausdrucksmöglichkeiten zu deuten. Durch das Reagieren auf und Beobachten dieser Veränderungen und damit einhergehenden Veränderungen können Begleiter:innen möglicherweise etwas über die Bedürfnisse und Präferenzen der Person mit komplexer Behinderung erfahren.

Umgang mit der Wahrheit

Offene und
ehrliche
Kommunikation

 

Ein weiterer wichtiger Grundsatz in der Kommunikation mit Menschen mit komplexer Behinderung ist, dass auch sie ein Recht auf offene und ehrliche Kommunikation über ihre eigene Krankheit, ihr Sterben und ihren Tod haben [13].

Aufgrund der Vermutung, dass schwerkranke bzw. sterbende Menschen mit komplexer Behinderung die Informationen nicht verstehen oder nicht mit ihnen zurechtkommen würden, passiert es immer wieder, dass sie nicht über ihren gesundheitlichen Zustand informiert werden.

Auch persönliche traumatische Erfahrungen der Begleitenden mit den Themen Sterben und Tod, sowie die Motivation sich selbst vor der eigenen emotionalen Betroffenheit zu schützen, können dazu führen, dass Menschen mit komplexer Behinderung Informationen vorenthalten werden. Zu bedenken ist aber, dass ihnen damit die Möglichkeit bewusste Entscheidungen zu treffen und sich auf den Abschied vorzubereiten, vorenthalten werden.. [14] Begleitende sollten derartige Vorannahmen daher reflektieren und Menschen mit komplexer Behinderung gegenüber ehrlich sein. Auch, wenn sie nicht sicher sind, was das Gegenüber verstehen kann, sollten sie ihm Informationen über seinen Zustand bereitstellen. Wenn sich Begleitende das Überbringen schlechter Nachrichten nicht zutrauen, können sie überlegen, wer noch dafür in Frage kommen könnte. Beim Informieren über den Gesundheitszustand ist die Verwendung einer möglichst einfachen und klaren Sprache, sowie die Verwendung von anschaulichen Hilfsmitteln zur Unterstützung der Kommunikation wichtig. Das Sterben und der Tod sollten auch als solche benannt werden, da sonst die Gefahr besteht, dass es zu einem falschen Verständnis bzw. falschen Vorstellungen kommt. [15]

Akzeptanz des
Nicht-Wissen-Wollens

Gleichzeitig hat aber auch niemand die Pflicht zur Wahrheit. Manche Personen wollen die Wahrheit nicht wissen, verdrängen diese oder brauchen Zeit zur Verarbeitung. Begleitende sollten deshalb zwar ehrlich sein, einer Person die Hoffnung aber auch nicht nehmen [16] und sensibel auf mögliche Zeichen der Überforderung reagieren. Ein Gefühl von Sicherheit, Handlungsfähigkeit und Verstehen können bei der Bewältigung des Geschehens hilfreich sein [17]. Es sollte besondere Achtsamkeit darauf gelegt werden, dass Menschen mit komplexer Behinderung unterschiedliche Fähigkeiten im Verstehen und Bewältigen, verschiedene Lebenserfahrungen und individuelle Lebenseinstellungen mitbringen [18].

Schlechte Nachrichten
überbringen

Tuffrey-Wijne, Ärztin für Medizin bei Menschen mit geistiger Behinderung und Palliativmedizin in London schlägt, in „How to break bad news to people with intellectual diabillities“ vor sich Gedanken zu folgenden Fragen zu machen:

  • Welche Vorerfahrungen und Kenntnisse hat ein Mensch mit komplexer Behinderung im Bereich Krankheit, Sterben, Tod und Trauer bereits gemacht hat?
  • Wie viele Informationen kann er auf einmal bewältigen? Die Menge an Informationen sollte entsprechend des jeweiligen Aufnahmevermögens gut dosiert werden. Dabei sollte darauf geachtet werden mindestens so viel Wissen zu vermitteln, dass körperliche und alltägliche Veränderungen verstanden werden können.
  • Wer soll die Nachricht überbringen? Wann ist der beste Zeitpunkt? Wo der beste Ort? [19]

Möglicherweise kann es verstehensunterstützend wirken, Informationen wiederholt zu vermitteln oder in mehreren kleinen Schritten anzubieten. [20] Auch Bücher in einfacher/leichter Sprache, Bilder, themenbezogene Geschichten) können herangezogen werden, um ein Verstehen zu ermöglichen. Die Einbeziehung von Hospizdiensten, Seelsorger:innen oder Psycholog:innen kann beim Überbringen schlechter Nachrichten ebenfalls hilfreich sein.

Autonomie und Entscheidungsfindung

Recht auf Autonomie
und Selbstbestimmung

In der Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland heißt es „Der sterbende Mensch muss darauf vertrauen können, dass Entscheidungen unter Achtung seines Willens getroffen werden. […] Die Gewährleistung von menschenwürdigen Rahmenbedingungen für schwerstkranke und sterbende Menschen, die Garantie sozialer Rechte und einer angemessenen Begleitung gehören ebenso wie die Sicherung von Autonomie und Selbstbestimmung zu den Merkmalen einer Gesellschaft, die die Rechte Schwerstkranker und Sterbender als hohes Gut ansieht und verteidigt“ [21].

In dem Auszug der Charta wird deutlich, dass u.a. die Wahrung von Autonomie und Selbstbestimmung eine herausragende Rolle in der hospizlichen und palliativen Begleitung von Menschen in der letzten Lebenszeit spielt. Jeder Mensch bringt letztendlich eine einzigartige Kombination von Werten und Präferenzen mit sich, die am Lebensende gewahrt werden müssen. Nur so kann eine bedürfnis- und personenorientierte Unterstützung realisiert werden.

Fehlendes Zutrauen
in die Entscheidungs-
fähigkeit

Für den Personenkreis von Menschen mit komplexer Behinderung kann dieser Anspruch in seiner Realisierung jedoch herausfordernd sein. Ihnen wird oftmals nicht zugetraut weitreichende Entscheidungen für sich und ihr Leben bzw. ihr Lebensende zu treffen. Auch ein individualistisches Autonomieverständnis stellt einen ungünstigen Hintergrund für die Sichtweise auf die Entscheidungsfähigkeit und Entscheidungsprozesse von Menschen mit komplexer Behinderung dar. Das individualistische Autonomieverständnis geht von einer persönlichen Freiheit und Eigenverantwortung aus, die unabhängig von äußeren Einflussfaktoren ist. Ein solches Verständnis kann für den Personenkreis von Menschen mit komplexer Behinderung schwierig sein.

Relationale Autonomie

Dabei bleibt die grundsätzliche Verletzlichkeit und Angewiesenheit aller Menschen zueinander unbeachtet [22]. Von daher scheint ein relationaler Zugang zu Selbstbestimmung und Autonomie in Anbetracht der letzten Lebensphase von Menschen mit komplexer Behinderung sinnvoll [23]. „Vor dem Hintergrund eines solidarisch gedachten Selbstbestimmungsbegriffs, der Selbstbestimmung allen Menschen gleichermaßen zuerkennt, und der Vulnerabilität und Angewiesenheit letztlich aller Menschen, kann Selbstbestimmung nur relational möglich sein, denn Selbstbestimmung realisiert sich meist in Beziehungen zu anderen Menschen.“ [24]

Unterstützende Entscheidungsfindung

Es ist daher wichtig Menschen mit komplexer Behinderung nicht vorschnell von Entscheidungsprozessen auszuschließen. Ihre Wünsche, Bedürfnisse und Vorstellungen müssen ernst genommen und in Entscheidungsprozesse einbezogen werden, um ihre Autonomie bestmöglich zu gewährleisten. Es braucht einen Paradigmenwechsel von stellvertretenden Entscheidungen hin zu einer unterstützten Entscheidungsfindung auch für diesen Personenkreis. Bei Menschen mit komplexer Behinderung Selbstbestimmung zu ermöglichen kann auch bedeuten kleinste körperliche Veränderungen und Reaktionen als Ausdruck der eigenen Selbstbestimmungsfähigkeit wahrzunehmen und sensibel darauf einzugehen. Begleitende sind dazu angehalten sich selbst zu reflektieren, um zu verhindern, dass gut gemeinte Fürsorge in Paternalismus und Fremdbestimmung übergeht.

Beratungsgespräche zur Gesundheitlichen Versorgungsplanung können eine Möglichkeit darstellen um über Präferenzen und Vorstellungen in Bezug auf die letzte Lebensphase ins Gespräch zu kommen.

Gespräche zur Gesundheitlichen Versorgungsplanung nach §132g

Aufsuchendes Beratungsangebot

Seit 2015 sind Einrichtungen der Eingliederungshilfe mit dem Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung (HPG) in Deutschland aufgefordert, für ihre Klient:innen die sogenannte Gesundheitliche Versorgungsplanung am Lebensende nach § 132g SGB V anzubieten.

Unter der Gesundheitlichen Versorgungsplanung wird ein aufsuchendes Beratungsangebot verstanden, welches in Einrichtungen der Eingliederungs- und Altenhilfe angeboten werden kann. Ziel der Beratung ist es „frühzeitig Werthaltungen und Einstellungen in Bezug auf Leben und Sterben sowie Versorgungswünsche“ [25] zu eruieren. Eigene Vorstellungen und Präferenzen sollen für „Situationen der Einwilligungsunfähigkeit“ [26] besprochen werden. Konkret kann u.a. über die medizinisch-pflegerische Versorgung und Betreuung in der letzten Lebensphase, über möglich Notfallsituationen sowie geeignete Maßnahmen der palliativ-medizinischen, palliativ-pflegerischen und psychosozialen Versorgung gesprochen werden. Die Beratungen werden durch qualifizierte Gesprächsbegleiter:innen durchgeführt. Es handelt sich um eine kassenärztliche Leistung – das bedeutet, dass das Beratungsangebot für gesetzlich Krankenversicherte kostenlos ist.

In den Beratungsprozess können verschiedenen Bezugspersonen (Angehörige, gesetzliche Betreuer:innen, Mitarbeiter:innen) sowie die behandelnden (Haus-)Ärzt:innen einbezogen werden. Der Beratungsprozess besteht meist aus mehreren Beratungssitzungen. Die geäußerten Vorstellungen und Präferenzen werden dokumentiert und sollen regelmäßig aktualisiert werden.

Offenes Beratungsangebot

Grundsätzlich handelt es sich bei der Gesundheitlichen Versorgungsplanung um ein offenes Angebot. Das bedeutet: es besteht die Möglichkeit, dass am Ende eines Beratungsprozesses eine Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht oder Betreuungsverfügung erstellt werden kann. Das muss aber auch nicht passieren. Es gibt unterschiedliche Instrumente in einfacher Sprache (z.B. Zukunftsplanung am Lebensende von Bonn Lighthouse) mit denen eine Werteerfassung und Vorausplanung ermöglicht werden soll.

Mit Blick auf Menschen mit komplexer Behinderung kann die Gesundheitliche Versorgungsplanung an gewisse Grenzen kommen, da sie ein Instrument ist, bei welchem Ratsuchende das Ausmaß ihrer Entscheidungen auf nachvollziehbare Weise umfänglich verstehen können sollen. Können sie ihre Entscheidungen nicht ohne großen Interpretationsspielraum selbst zum Ausdruck bringen, müssen andere Wege zur Entscheidungsfindung genutzt werden.

Ethische Fallbesprechungen

Ethische Fallbesprechungen haben sich in den letzten Jahren vor allem im klinischen Kontext als ein hilfreiches Instrument etabliert, wenn es um schwierige ethische Fragestellungen im Zusammenhang mit der Begleitung und Versorgung einer Person (am Lebensende) geht, welche ihren eigenen Willen und ihre Bedürfnisse nicht (mehr) äußern kann oder Unterstützung im Entscheidungsprozess benötigt. Sie bieten eine strukturierte Möglichkeit diese Fragestellungen nach Möglichkeit mit der Person selbst und allen Beteiligten zu diskutieren. Eine ethische Fallbesprechung kann beispielsweise hilfreich sein, wenn Behandlungsentscheidungen getroffen werden müssen oder eine Situation eintritt, die eine Entscheidung nach dem mutmaßlichen oder natürlichen Willen eines:einer Betroffenen erfordert. Ziel ist es, eine ethisch verantwortungsbewusste Entscheidungsfindung zu ermöglichen, die sowohl die Rechte und Bedürfnisse der Person mit komplexer Behinderung respektiert als auch ethische Grundsätze und rechtliche Rahmenbedingungen berücksichtigt.

Teilnehmende

Dafür soll eine Vielzahl von Perspektiven berücksichtigt werden. Nach Möglichkeit sollte die:der Betroffenen selbst an der ethischen Fallbesprechung teilnehmen. Darüber hinaus sollten alle Menschen hinzugezogen werden, die den:die Betroffene und seine Biographie gut kennen und in seine Begleitung und Versorgung involviert sind (z.B. Angehörige, der:die rechtliche Betreuer:in, Freund:innen, die begleitenden Fachkräfte, der:die Hausärzt:in, Leitungspersonen und weitere). [27] Die ethische Fallbesprechung wird von einer diesbezüglich ausgebildeten Person moderiert.

Wissen über die Lebensgeschichte

Um in einer ethischen Fallbesprechung ein gutes Fundament an Wissen über die betroffene Person und Anhaltspunkte für ihre Präferenzen, Wünsche und Werte am Lebensende zu haben, erscheint es möglichst frühzeitig Informationen über ihre Vergangenheit, Gegenwart und auch Zukunftsvorstellungen zu sammeln und in Absprache mit ihr zu dokumentieren. Bei Personen, deren Ausdrucksweise einen großen Interpretationsspielraum lässt, kann es hilfreich sein, wenn Begleitpersonen Handlungen dieser Person in verschiedenen Alltagssituationen sowie in guten und herausfordernden Zeiten beobachten und dokumentieren.

Entscheidungen im Sinne der betroffenen Person

In einer ethischen Fallbesprechung kann dann auf diese dokumentierten Wahrnehmungen und das Wissen über die Biographie zurückgegriffen werden und der Fokus auf die Frage gerichtet werden, was im Sinne der betroffenen Person sein könnte und welche Handlungsschritte hierfür hilfreich wären. Alle Handlungsschritte sollten hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile für die betroffene Person diskutiert werden. [28] Wenn das Lebensende absehbar ist können ethische Fallbesprechungen auch dazu genutzt werden, sich mit Fragen nach lebenserhaltenden Maßnahmen zu beschäftigen. Bei der Suche nach Antworten müssen Begleitpersonen versuchen sich von ihren eigenen Werten und Vorstellungen zu lösen. Es geht nicht darum, was sie selbst für richtig oder gut halten, sondern darum, was die betroffene Person wollen würde. [29]

Besondere ethische Brisanz aufgrund von NS-Ideologie

Entscheidungsprozesse am Lebensende bei Menschen mit komplexer Behinderung haben aufgrund der Euthanasie-Verbrechen besondere ethische Brisanz. In der NS-Zeit wurden Menschen mit Behinderung aus einer rassenhygienischen und sozialdarwinistischen Haltung heraus ermordet. Diese Ermordungen wurden als Akt der Gnade euphemisiert und gerechtfertigt, indem Behinderung und Leid geleichgesetzt wurden [30]. Das Leben von Menschen mit Behinderung wurde als lebensunwert herabgewürdigt. Tendenzen dieser Ideologien sind auch in der heutigen Leistungsgesellschaft noch wirkmächtig. Dies zeigte sich z.B. deutlich, als zu Hoch-Zeiten der Covid-19-Pandemie Intensivbetten und Ressourcen knapp wurden und diskutiert wurde, welche Patient:innen intensivmedizinisch behandelt und welche palliativmedizinisch versorgt werden sollen. Grunderkrankungen und Behinderungen wurden als ein Kriterium für derartige Triage-Entscheidungen in Betracht gezogen. Auch Aussagen, die das Leben eines Menschen mit komplexer Behinderung als vorwiegend leidvoll beschreiben, weisen auf ein derartiges Gedankengut hin.

Reflektieren einer möglichen Beeinflussung

Entscheidungen über das Einstellen bzw. nicht Ergreifen von lebensverlängernden Maßnahmen bei Menschen mit komplexer Behinderung am Lebensende, sollten vor diesem Hintergrund besonders sensibel erfolgen. Alle an einem Entscheidungsprozess Beteiligten müssen ihre eigenen Überzeugungen und Grundannahmen dahingehend ehrlich reflektieren und sich selbst daraufhin befragen, inwiefern ihre Haltung und Sichtweise von derartigen Einstellungen geprägt sein könnte.

Etablieren von ethischen Fallbesprechungen in der EGH

Fallgeschichte4 Fallbesprechung

Ethische Fallbesprechungen können zu einem ethischen Bewusstsein und zur Sensibilisierung für derartige Prägungen beitragen und sorgen dafür, dass Entscheidungen nicht von Einzelpersonen getroffen werden (müssen). Stattdessen können sie von allen Beteiligten gemeinsam getragen werden. Daher sind Träger von Wohnformen für Menschen mit Behinderung dazu aufgefordert, neben der hospizlichen und palliativen Kompetenzen auch ethische Fallgespräche anzubieten, beispielsweise durch ein Ethikkomitee. Außerdem sollte jede Einrichtung ihre eigene Geschichte in Bezug auf die Euthanasie-Verbrechen in der NS-Zeit aufarbeiten, sofern diese soweit zurück reicht, und so zu einem reflektierten Umgang ihrer Angestellten damit beitragen.

Quellen

[1] vgl. Jennessen 2014, S. 23 [2] ebd., S. 23 [3] vgl. Hartmann 2023, S. 171 [4] vgl. ebd., S. 170 [5] vgl. Bruhn & Osterwald 2014, S. 116 [6] vgl. Reich 2019, S. 2 [7] vgl. Hartmann 2018, S. 26 [8] vgl. ebd., S. 26 [9] vgl. Bruhn 2014, S. 123 [10] vgl. Hartmann 2018, S. 92f. [11] vgl. ebd., S. 26 [12] vgl. Witt-Loers 2019, S. 158 [13] vgl. Hartmann 2018, S. 34 [14] vgl. ebd., S. 34 [15] vgl. Witt-Loers 2019, S. 127 [16] vgl. Hartmann 2018, S. 33 [17] vgl. ebd., S. 36 [18] vgl. ebd., S. 34 [19] vgl. Tuffrey-Wijne 2012, 170f. zitiert nach Hartmann 2023, S. 181 [20] vgl. Witt-Loers 2019, 13/ 104/ S. 128 [21] Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e.V. 2020, S. 9 [22] vgl. Fricke et al. 2021, S. 39 [23] vgl. ebd., S. 39 [24] PiCarDi Homepage, S. 2 [25] Fricke et al. 2021, S. 38 [26] ebd., S. 38 [27] vgl. Hartmann 2018, S. 73f. [28] vgl. ebd., S. 37f. [29] vgl. ebd., S. 70f. [30] vgl. Dederich 2014, S. 41f. 



Literatur

Bruhn, R. (2014): Zugänge finden – Wege einer gelingenden Kommunikation. In: Bruhn, R & Straßer, B. (Hrsg.): Palliative Care für Menschen mit geistiger Behinderung. Interdisziplinäre Perspektiven. Stuttgart: Kohlhammer, S. 119-123.

Bruhn, R. & Osterwald, H. (2014): Sterbe- und Todesverständnis von Menschen mit geistiger Behinderung. In: Bruhn, R & Straßer, B. (Hrsg.): Palliative Care für Menschen mit geistiger Behinderung. Interdisziplinäre Perspektiven. Stuttgart: Kohlhammer, S. 116-119.

Dederich, M. (2014): Leid und Mitleid im Leben von Menschen mit geistiger Behinderung. In: Bruhn, R & Straßer, B. (Hrsg.): Palliative Care für Menschen mit geistiger Behinderung. Interdisziplinäre Perspektiven. Stuttgart: Kohlhammer, S. 39-43.

Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e. V. (2020) (Hrsg.): Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland. 10 Aufl. [Zugriff am20.03.2024]

Fricke, Ch.; Heusner, J. & Schlichting, H. (2021): Selbstbestimmt leben – selbstbestimmt sein auch in der letzten Lebensphase. In: Menschen. Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, 44 (1), S. 35-41.

Hartmann, B. (2018): Palliative Begleitung von Menschen in Wohnformen der Eingliederungshilfe. Ein Leitfaden für Träger, Leitungen sowie Mitarbeitende in der Assistenz und Pflege von Menschen mit intellektueller, komplexer und/oder psychischer Beeinträchtigung. [Zugriff am 20.03.2024].

Hartmann, B. (2023): Grundlagen der Palliativversorgung in Wohnformen der Eingliederungshilfe. In: Zuleger, A., Maier-Michalitsch, N. (Hg.), Pflege und palliative Care interdisziplinär bei Menschen mit Komplexer Behinderung. Düsseldorf: selbstbestimmtes leben, S. 168-187.

Jennessen, S. (2014): Junge Menschen in dauerhaft fragilen Gesundheitssituationen. In: Maier-Michalitsch, N.; Grunick, G. (Hg): Leben bis zuletzt-Sterben, Tod und Trauer bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf: selbstbestimmtes leben, S. 21-34.

PiCarDi Homepage. [Zugriff am 20.03.2024]

Reich, K. (2019): Empfehlungsbroschüre des Wissenschafts- und Kompetenzzentrums für Menschen mit Komplexer Behinderung der Stiftung Leben pur: Sterben, Tod und Trauer bei Menschen mit Komplexer Behinderung. [Zugriff am 20.03.2024]