Organisationskultur & Organisationsentwicklung

Die besondere Wohnform der Eingliederungshilfe (EGH) als Lebens- und Sterbeort – Organisationskultur und Organisationsentwicklung

Wunsch „zu Hause“ zu sterben

 

Die Forschungsergebnisse einer qualitativen Onlinebefragung zu konkreten Sterbefällen in besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe aus dem Forschungsprojekts PiCarDi legen nahe, dass sich viele Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung (57%) nicht nur wünschen in ihrer jeweiligen Wohnform zu sterben, sondern auch tatsächlich dort versterben, wo sie sich zu Hause fühlen [1].

Gefahr des Umzugs in eine Pflegeeinrichtung

 

Mit steigenden alters- und krankheitsbedingtem Unterstützungsbedarf kann es jedoch auch dazu kommen, dass Umzüge in Pflegeeinrichtungen veranlasst werden. Daher stellt sich zum einen die Frage, wie Organisationen sich entwickeln müssen, damit ein Sterben vor Ort möglich ist und derartige Umzüge vermieden werden können, zum anderen, was es für eine gute hospizliche und palliative Begleitung in besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe braucht.

Zentrale Bedeutung der Organisationskultur

 

Das Forschungsprojekt PiCarDi kommt auf der Grundlage von qualitativen Befragungen von Leitungskräften und Fachkräften unterschiedlicher Wohnformen zu dem Schluss, dass „[…] Fragen von professioneller Haltung und Organisationskultur zentral sind für eine gute Begleitung am Lebensende.“ [2] Organisationskultur meint dabei die Werte, Vorstellungen und Routinen einer Organisation. Professionalität und Organisationskultur sind also eng miteinander verknüpft zu sehen, da eine entsprechende Organisationskultur die Voraussetzung für die Möglichkeiten und die Weiterentwicklung professionellen Handelns darstellt.

Im Forschungsprojekt PiCarDi konnte herausgearbeitet werden, dass die Organisationskultur sich besonders dann positiv auf die Begleitung und Versorgung von Menschen mit komplexer Behinderung am Lebensende auswirkt, wenn sie gleichermaßen personenzentriert ist, eine Kultur der Präsenz der Themen Sterben, Tod und Trauer vorhanden ist und eine funktionale Versorgungssicherheit vorliegt.

Personenzentrierung

 

Personenzentrierung liegt dann vor, wenn Unterstützungsprozesse konsequent an den individuellen Bedürfnissen und der subjektiven Selbstdeutung der schwerkranken bzw. sterbenden Bewohner:innen, unter Einbeziehung ihrer biografischen Prägung ausgerichtet werden.

Kultur der Präsenz der Themen Sterben, Tod und Trauer

 

Eine Kultur der Präsenz besteht dann, wenn die Themen Sterben, Tod und Trauer zugelassen und als Aufgabe angenommen und verstanden werden. Dies umfasst Kompetenzen der Mitarbeitenden in diesem Themenfeld sowie die konzeptionelle Verortung in der Einrichtung.

Funktionale Versorgungssicherheit

 

Die Dimension der funktionalen Versorgungssicherheit bezieht sich auf strukturelle und personelle Aspekte. Insbesondere geht es darum, inwieweit die notwendigen Versorgungsstrukturen, z.B. in Form von personellen, zeitlichen und räumlichen Ressourcen, für die Begleitung und Versorgung am Lebensende geschaffen und genutzt werden, ob Kooperationen mit externen hospizlichen und palliativen Angeboten bestehen und wie diese integriert werden. [3]

Eine Ausgewogenheit dieser drei Dimensionen zeichnet sich zum Beispiel dadurch aus, dass ein hohes Maß an Versorgungssicherheit gewährleistet wird, während gleichzeitig Offenheit für das bleibt, was darüber hinaus in einer spezifischen Situation für eine individuelle Person erforderlich ist. Die Balance zwischen dem Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit auf der einen Seite und dem Bewusstsein um die Unvorhersehbarkeit des Lebens und des Sterbens auf der anderen Seite aufrechtzuerhalten, stellt eine herausfordernde Aufgabe dar. Die Forschungsergebnisse belegen, dass das Spannungsfeld oft zugunsten der Sicherheit aufgelöst wird [4].

Analyse der eignen Organisationskultur

 

Wollen Organisationen schwerkranken und sterbenden Bewohner:innen den Verbleib und eine umfassende Unterstützung und Begleitung in ihrer gewohnten Umgebung ermöglichen bzw. sich dahingehend weiterentwickeln, können sie die eigene Organisationskultur im Rahmen von Organisationsentwicklungsprozessen mit Blick auf die Ausprägung der genannten Dimensionen hin analysieren. Dies umfasst die Reflexion der Basisannahmen aller beteiligten Akteur:innen, ihrer Haltungen, Emotionen und Rollenverständnisse, da diese die Ausprägung der jeweiligen Organisationskultur wesentlich mit beeinflussen können. [5]

„Die Analyse von bereits vorhandenen Elementen und dem, was das Vorhandene ergänzen und stabilisieren könnte, ist hilfreich, um vorhandene Ressourcen und zugleich Bedürfnisse, Sorgen und Ängste der Mitarbeitenden aufzunehmen. Mitarbeitende fühlen sich einbezogen und können die geplanten Maßnahmen verstehen und nachvollziehen.“ [6]

Einleiten weiterer Maßnahmen zur Organisationsentwicklung

 

Neben dieser Analyse der vorhandenen Organisationskultur, erfordert die Entwicklung und Integration einer hospizlichen und palliativen Kultur in der Eingliederungshilfe eine koordinierte Anstrengung auf verschiedenen Ebenen, um sicherzustellen, dass alle Beteiligten die notwendigen Fähigkeiten und Kenntnisse besitzen, um eine einfühlsame und qualitativ hochwertige Begleitung und Versorgung von Bewohner:innen am Lebensende zu gewährleisten. Dazu gehört die Sensibilisierung für die Themen Sterben, Tod und Trauer. Dabei erscheint es mit den Forschungsergebnissen der zweiten Förderphase des Projekts PiCarDi-D wichtig, dass die Werte der Mitarbeitenden mit denen der Einrichtung übereinstimmen. Dies kann insbesondere durch Austausch zwischen den Führungskräften und den Mitarbeitenden erreicht werden. [7]

Weitere Maßnahmen können das partizipative Erarbeiten von Leitlinien, Standards und Dokumentationsunterlagen, die Etablierung von Instrumenten zur Schmerzerfassung und Biographiearbeit, das Angebot von Schulungen zu Palliativ Care für Mitarbeitende und das Herstellen von Kontakten zu externen hospizlichen und palliativen Diensten und Einrichtungen sein [8].

Quellen

[1] vgl. Schäper et al. 2021, S. 31 [2] ebd., S. 35 [3] vgl. ebd., S. 34 [4] vgl. Schäper et al. 2023, Folie 40 [5] vgl. ebd., Folie 38 [6] Hartmann 2018, S. 107 [7] vgl. Schäper et al. 2023, Folie 38 [8] vgl. Hartmann 2018, S. 108

 



Literatur

Hartmann, B. (2018): Palliative Begleitung von Menschen in Wohnformen der Eingliederungshilfe. Ein Leitfaden für Träger, Leitungen sowie Mitarbeitende in der Assistenz und Pflege von Menschen mit intellektueller, komplexer und/oder psychischer Beeinträchtigung. [Zugriff am 20.03.2024].

Schäper, S.; Jennessen, S.; Schlichting, H. (2021): Abschlussbericht/ Erste Förderphase. Unveröffentlicht.

Schäper, S., Jennessen, S., Schlichting, H.: „ Es geht um mein Leben und meinen Tod“ – Teilhabe bis zuletzt. PiCarDi-Abschlusstagung am 5. Oktober 2023. Unveröffentlicht.