Palliative Versorgung & Begleitung

Palliative Versorgung und Begleitung

Dr. Helga Schlichting | Julia Heusner | Mia Weithardt [Universität Leipzig]

  Gefördert durch die

Hallwachs

Relevanz und Bedeutung von Palliative Care bei Menschen mit komplexer Behinderung

Frühere und häufigere
Konfrontation mit Sterben,
Tod und Trauer

 

Sterben, Tod und Trauer sind unangenehme Themen. Gleichzeitig sind sie allgegenwärtige Aspekte des Lebens, denen sich alle Menschen früher oder später stellen müssen. Oft geschieht dies zunächst als Angehörige, Freund:innen oder Bekannte. [] Auf viele Menschen mit komplexer Behinderung trifft die Allgegenwärtigkeit des Themas in besonderer Weise zu: Aufgrund ihrer komplexen Krankheitssituation und damit einhergehenden Krisen oder Lebenslimitierungen sind sie oft früher und wiederholt mit ihrer eigenen Endlichkeit konfrontiert [2]. Dies ergibt auch eine Sekundäranalyse vorhandener Daten zu Sterberaten bei Menschen mit geistiger Behinderung des Forschungsprojekts Palliative Care und hospizliche Begleitung von Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung (PiCarDi). Demnach gibt es „ein[en] negative[n] Zusammenhang zwischen Hilfebedarf und Sterbealter: je höher der Hilfebedarf, umso niedriger ist das durchschnittliche Sterbealter.“ [3] Auch Familien und Bezugspersonen von Menschen mit komplexer Behinderung müssen sich demnach früher und häufiger als andere Personen, mit den Themen Sterben, Tod und Trauer beschäftigen. [4]

Schnittstellen-
problematik

 

Daher kann auch die hospizliche und palliative Begleitung und Versorgung früher eine bedeutende Rolle im Leben dieser Personengruppe, sowie ihrer An- und Zugehörigen einnehmen. Einige Kinder und Jugendliche mit einer komplexen Behinderung werden z.B. regelmäßig in einem Kinder- und Jugendhospiz betreut. Entwachsen sie dieser Versorgungsstruktur gestaltet sich der Zugang zu palliativen und hospizlichen Strukturen für Menschen mit komplexer Behinderung, und damit auch für ihre An- und Zugehörigen oft schwieriger. Dies legen die qualitativen Daten des Projekts PiCarDi nahe, nach denen Fachkräfte aus der hospizlichen und palliativen Begleitung und Versorgung für Erwachsene deutlich seltener Berührungspunkte mit Menschen mit Behinderung haben, als jene des Kinder- und Jugendbereichs. Dies liegt an einer fehlenden Vernetzung an der Schnittstelle der Dienste der Eingliederungshilfe und der hospizlichen und palliativen Strukturen für Erwachsene. Dadurch können Unwissen über die Strukturen und Logiken des jeweils anderen Bereichs entstehen, sowie Unsicherheiten und Berührungsängste mit Menschen mit komplexer Behinderung bzw. mit der Begleitung und Versorgung am Lebensende.

Zunahme der Relevanz der Themen in der Eingliederungshilfe

 

Darüber hinaus werden die Themen Sterben, Tod und Trauer in besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe immer bedeutsamer, weil diese zunehmend auch von älteren und in der Folge auch sterbenden Menschen bewohnt werden. Dies liegt zum einen im demografischen Wandel begründet. Durch eine bessere medizinische Versorgung hat die Zahl der Menschen mit Behinderung im höheren Lebensalter in den letzten Jahren zugenommen. Zum anderen besteht die besondere Situation, dass aufgrund der Euthanasie-Verbrechen der Nazis nach der ermordeten und dadurch fehlenden Generation nun die Nachkriegsgeneration älter wird. Daher wird auch der Bedarf an Konzepten und Angeboten zur hospizlichen und palliativen Begleitung und Versorgung des Personenkreises der Menschen mit Behinderung in naher Zukunft deutlich zunehmen. [5]

Wunsch in gewohnter
Umgebung zu Sterben

 

Die Ergebnisse aus Interviews mit Menschen mit einer geistigen Behinderung aus dem Forschungsprojekt PiCarDi weisen darauf hin, dass viele der schwerkranken, alternden und sterbenden Menschen mit Behinderung ihr Lebensende dort verbringen wollen, wo sie sich zu Hause fühlen. [6] Oft sind das die jeweiligen Wohnformen der Eingliederungshilfe. Gleichzeitig besteht jedoch die Gefahr, dass mit einem erhöhten Pflegebedarf der Verbleib in den Leistungen der Eingliederungshilfe gefährdet ist und ein Umzug in ein Pflegeheim stattfindet. Besondere Wohnformen der Eingliederungshilfe sind daher aufgefordert nicht nur Orte des Lebens zu sein, sondern zeitgleich Orte des Sterbens zu werden.

Recht auf Teilhabe in
der letzten Lebensphase

 

Dieser Teilhabe-Anspruch findet sich zunehmend auch in der deutschen Gesetzeslage wieder. Sowohl die UN-Behindertenrechtskonvention, als auch das Hospiz- und Palliativgesetz betonen die Notwendigkeit des Abbaus von Barrieren in der gesundheitlichen Versorgung (Art. 25 UN-BRK) bzw. den gleichberechtigten Zugang aller Menschen zu hospizlichen und palliativen Strukturen. Das Hospiz- und Palliativgesetz benennt auch Menschen, die in Einrichtungen der Eingliederungshilfe leben, ausdrücklich als Adressaten. Auch die Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland weißt explizit darauf hin, dass das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe von schwerkranken bzw. sterbenden Menschen mit Behinderung auf die Zugänglichkeit von palliativen Versorgungsangeboten anzuwenden ist. [7] Diese sollen ohne jede Einschränkung barrierefrei in Anspruch genommen werden können. Im Bundesteilhabegesetz (BTHG) wird „die Bedeutung der Teilhabe auch bei stärkerer Pflegebedürftigkeit und am Lebensende [zwar] nicht explizit erwähnt“[8], dennoch können auch dort Ansatzpunkte für ein entsprechendes Recht zur Teilhabe in der letzten Lebensphase gefunden werden.

Quellen

[1] vgl. Hartmann 2023, S. 168 [2] vgl. Reich 2019, S. 2 [3] Schäper et al. 2021, S. 29 [4] vgl. Reich 2019, S. 2 [5] vgl. PiCarDi Homepage [6] vgl. Schäper et al. 2021, S. 79 [7] vgl. ebd., S. 79 [8] Roemer et al. 2021, S. 1  51f.



Literatur

Hartmann, B. (2023): Grundlagen der Palliativversorgung in Wohnformen der Eingliederungshilfe. In: Zuleger, A., Maier-Michalitsch, N. (Hg.), Pflege und palliative Care interdisziplinär bei Menschen mit Komplexer Behinderung. Düsseldorf: selbstbestimmtes leben, S. 168-187.

PiCarDi Homepage. [Zugriff am 20.03.2024]

Reich, K. (2019): Empfehlungsbroschüre des Wissenschafts- und Kompetenzzentrums für Menschen mit Komplexer Behinderung der Stiftung Leben pur: Sterben, Tod und Trauer bei Menschen mit Komplexer Behinderung. [Zugriff am 20.03.2024]

Roemer, A.; Schroer, B.; Schäper, S. (2021): Teilhabe bis zum Lebensende. Handreichung für die Entwicklung und Darstellung von Leistungen in der Begleitung am Lebensende in der Eingliederungshilfe. Herausgeber: DGP. [Zugriff am 20.03.2024]

Schäper, S.; Jennessen, S.; Schlichting, H. (2021): Abschlussbericht/ Erste Förderphase. Unveröffentlicht